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Geheime Spiel

Geheime Spiel

Titel: Geheime Spiel
Autoren: K Morton
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würde.
    Doch der Brief war nicht von ihm. Er kam von einer jungen Frau, die einen Film über die Vergangenheit drehte. Sie wollte, dass ich mir ihre Kulissen ansah, dass ich mich an Dinge und Ereignisse erinnerte, die lange zurückliegen.
Als hätte ich mich nicht mein Leben lang bemüht, all das zu vergessen.
    Ich schenkte dem Brief keine weitere Beachtung. Ich faltete ihn sorgfältig wieder zusammen und steckte ihn in ein Buch, das zu Ende zu lesen ich längst aufgegeben hatte. Und dann atmete ich tief durch. Es war nicht das erste Mal, dass ich an das erinnert wurde, was Robbie und den Hartford-Schwestern auf Riverton widerfahren war. Einmal hatte ich das Ende eines Dokumentarfilms im Fernsehen gesehen, eine Sendung über Soldatendichter, die Ruth sich gerade anschaute. Als Robbies Gesicht auf dem Bildschirm erschien, darunter sein Name in geraden Buchstaben, lief ein Prickeln über meine Haut. Aber nichts passierte. Ruth zuckte nicht zusammen, der Sprecher fuhr fort, und ich trocknete weiter die Teller ab.
    Ein anderes Mal entdeckte ich beim Studieren der Fernsehzeitschrift einen vertrauten Namen in einer Filmbeschreibung. Es ging um eine Sendung mit dem Titel »Siebzig Jahre britischer Film«. Mit klopfendem Herzen notierte ich mir die Uhrzeit, überlegte, ob ich es wirklich wagen würde, mir das anzusehen. Am Ende schlief ich während der Sendung ein. Emmeline wurde nur flüchtig erwähnt. Ein paar Fotos, von denen keins ihre wahre Schönheit zeigte, und ein Ausschnitt aus einem ihrer Stummfilme, The Venus Affair , in dem sie einen recht merkwürdigen Eindruck machte, hohlwangig und mit ruckartigen Bewegungen wie eine Marionette. Es gab keine Hinweise auf ihre anderen Filme, die beinahe einen Skandal ausgelöst hätten. Wahrscheinlich ist so etwas heute, in Zeiten der sexuellen Freizügigkeit, nicht mehr der Rede wert.
    Ich war also durchaus schon mit solchen Erinnerungen konfrontiert worden, aber Ursulas Brief war etwas anderes. Zum ersten Mal seit über siebzig Jahren brachte
jemand mich in Verbindung mit den Ereignissen, zum ersten Mal erinnerte sich jemand daran, dass eine junge Frau namens Grace Reeves in jenem Sommer auf Riverton gewesen war. Ich fühlte mich irgendwie verwundbar, ertappt und – schuldig.
    Nein. Ich würde diesen Brief auf keinen Fall beantworten.
    Und dabei blieb ich.
    Aber dann passierte etwas sehr Merkwürdiges. Erinnerungen, die lange in den dunkelsten Ecken meines Unterbewusstseins geschlummert hatten, begannen durch Ritzen zu sickern. Bilder tauchten vor meinem geistigen Auge auf, so klar und frisch, als wäre nicht inzwischen eine halbe Ewigkeit vergangen. Und dann, nach den ersten vereinzelten Rinnsalen, kam die Sintflut: ganze Gespräche, wortwörtlich, mit allen Einzelheiten, Szenen, die wie Kurzfilme vor mir abliefen.
    Ich wundere mich über mich selbst. Während mein Gedächtnis mich schon seit einigen Jahren oft schmählich im Stich lässt, stehen meine Erinnerungen an diese längst vergangenen Ereignisse klar und deutlich vor mir. Sie kommen immer häufiger, die Geister der Vergangenheit, und zu meiner eigenen Überraschung beunruhigen sie mich gar nicht sonderlich. Längst nicht so sehr, wie ich befürchtet hatte. Im Gegenteil, die Gespenster, vor denen ich ein Leben lang davongelaufen bin, haben inzwischen beinahe etwas Tröstliches, ich freue mich auf sie wie auf eine von diesen Fernsehserien, von denen Sylvia dauernd schwärmt, wenn sie sich beeilt, um mit ihrer Runde pünktlich zum Sendebeginn fertig zu sein. Ich hatte wohl ganz vergessen, dass unter all den düsteren Erinnerungen auch einige heitere wiederzuentdecken sind.
    Als vergangene Woche der zweite Brief kam, in derselben krakeligen Handschrift und auf dem gleichen weichen
Papier, wusste ich, dass ich ja sagen würde. Ich würde mir die Kulissen ansehen. Ich war tatsächlich neugierig, ein Gefühl, das ich schon lange nicht mehr empfunden hatte. Wenn man achtundneunzig Jahre alt ist, gibt es nicht mehr viel, worauf man neugierig sein kann, aber diese Ursula Ryan wollte ich kennenlernen, die Frau, die sie alle zum Leben erwecken will, eine Frau, die sich so leidenschaftlich für ihre Geschichte einsetzt.
    Also schrieb ich ihr einen Brief, bat Sylvia, ihn für mich zur Post zu bringen, und wir verabredeten ein Treffen.

Der Salon
    M eine Haare, die früher einmal hellblond waren, sind jetzt schneeweiß und sehr, sehr lang. Und sie scheinen von Tag zu Tag feiner zu werden. Sie sind mein ganzer Stolz – und es
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