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Geheime Melodie

Geheime Melodie

Titel: Geheime Melodie
Autoren: John le Carré
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werde ich dir den Grafen von Monte Cristo vorlesen, ein Lieblingsbuch meiner verstorbenen Tante Imelda. Es handelt von dem berühmtesten Sondergefangenen aller Zeiten. Heutzutage gibt es in England ziemlich viele Monte Cristos, und ich bin einer von ihnen.
    Ein Sondertransporter hat keine Fenster, aber daf ür Sondervorrichtungen auf dem Fußboden, an denen man Sonderhäftlinge zu ihrer eigenen Sicherheit und Bequemlichkeit während der dreistündigen Fahrt festschnallen kann. Und damit sie nicht auf die Idee kommen, die öffentliche Ordnung mit Protestgeschrei zu st ören, kommen sie ohne Aufpreis in den Genuß eines besonderen Lederknebels.
    Sondergefangene haben Nummern statt Namen. Meine lautet Zwei Sechs.
    Eine Sonderaufnahmeeinrichtung ist eine Ansammlung neu gestrichener Nissenh ütten, die 1940 für unsere tapferen kanadischen Verbündeten gebaut wurden, umschlossen von so viel Stacheldraht, daß man die gesamte Nazi-Armee damit abwehren könnte, was die vielen Briten, für die der Zweite Weltkrieg noch immer andauert, völlig in Ordnung finden, die eingekerkerten Insassen von Camp Mary eher weniger.
    Warum unser Lager nach der Muttergottes benannt ist, wei ß offiziell keiner. Manche sagen, der erste kanadische Kommandant sei ein frommer Katholik gewesen. Mr. J. P. Warner, ehemals bei der Königlichen Militärpolizei und heute Sondervollzugsbeamter, erzählt eine andere Geschichte. Ihm zufolge handelte es sich bei Mary um eine Dame aus der nahegelegenen Stadt Hastings, die in den finstersten Zeiten des Krieges, als Großbritannien mit dem Rücken zur Wand stand, an einem einzigen Abend zwischen dem letzten Appell und dem Zapfenstreich einem gesamten Zug kanadischer Pioniere ihre Gunst erwies.
    Meine ersten Begegnungen mit Mr. Warner lie ßen noch nicht ahnen, was für ein herzliches Verhältnis sich zwischen uns entwickeln sollte, doch von dem Tag an, da er sich überwand, an Maxies großzügiger Spende zu partizipieren, war das Eis gebrochen. Er habe nichts gegen Schwarze, beteuert er, schließlich habe sein Großvater in der Sudan Defence Force gedient und sein Vater w ährend der Aufstände in Kenia bei unserer hervorragenden Militärpolizei.
    Sonderh äftlinge genießen Sonderrechte:
    – das Recht, das Gelände unserer Einrichtung nicht zu verlassen – das Recht, nicht mit den anderen Insassen den frühmorgendlichen Marsch in die Stadt anzutreten, Autofahrern an Ampeln keine nach nichts duftenden Rosen zu verkaufen und ihnen nicht im Austausch für ein paar Beleidigungen die Scheiben ihrer BMWs zu putzen – das Recht, zu jeder Zeit zu schweigen, Anrufe weder zu tätigen noch zu bekommen, keine Briefe zu verschicken und nur solche Sendungen zu empfangen, die zuvor von oben abgesegnet und mir als Geste guten Willens von Mr. J. P. Warner persönlich ausgehändigt worden sind, dessen Aufgabenlast, wie er mir versichert, enorm ist.
    »Denken Sie nicht, daß ich Ihnen zuhöre, Zwei Sechs«, warnt er mich des öfteren und fuchtelt mir dabei mit dem Zeigefinger vor der Nase herum. »Sie sind bloß Luft, mehr nicht .« Dies, während er sich von meinem Rioja nachschenken läßt. »Kein Mensch aus Fleisch und Blut.« Trotzdem ist Mr. Warner ein kluger Zuhörer, der sich schon in allen Ozeanen des Lebens getummelt hat. Er hat in den abgelegensten Weltgegenden Militärgefängnisse geleitet und einmal auch – wegen eines Vergehens, über das er sich nicht näher ausläßt – den Strafvollzug am eigenen Leib kennengelernt. »Ver schw örungen sind nicht das Problem, Zwei Sechs. Jeder konspiriert, keiner wird verknackt. Aber wenn’s ans Vertuschen geht, dann hilf uns Gott.«
    Es hat schon etwas Tr östliches, nicht ganz allein dazustehen.
    * * *
    Es war wohl unvermeidlich, da ß sich meine Inhaftierung im Camp Mary schlecht anließ. Im nachhinein sehe ich das ein. Wie hätte man mir, dem durch SON DER-Status Gebrandmarkten, denn auch einen begeisterten Empfang bereiten sollen? Dazu das PG , das hinter meinem Namen stand – das Kürzel für POTENTIELL GEWALTTÄTIG : nun, jeder bekommt das, was er verdient, wie ich schmerzhaft erfahren durfte, als ich mich aus dem Geist der Solidarität heraus einigen Somalis anschloß, die auf dem Dach der alten Pfarrei, jetzt Hauptgebäude von Camp Mary, einen Sitzstreik veranstalteten. Unsere Botschaft an die Welt war friedlich. Wir hatten Ehefrauen und buntgekleidete Sonntagsschulkinder dabei. Die Bettlaken, die wir ins Scheinwerferlicht hielten, waren mit versöhnlichen
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