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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde
Autoren: Oliver Adam
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sie, sie war immer so brillant … Als sie klein war, war sie ein süßes, zerbrechliches Ding, ich hatte immer Angst um sie … Lesen Sie mir vor?«
    Ich nahm ihr das Buch aus der Hand und schlug es auf, wo wir das letzte Mal stehengeblieben waren. Ich verstand nicht viel, ich las Sätze, aber es war nur Klang, ihr Sinn drang nicht bis in mein Gehirn vor. Sie schloss die Augen, und beim Zuhören schien ihr Atem ruhiger zu werden, die Worte verflüssigten die Luft, öffneten ihre Lungen, so wirkte es jedenfalls. In meinem Rücken spürte ich einen warmen Luftzug, in der spiegelnden Fensterscheibe erkannte ich ihre Tochter, sie beobachtete uns. Als ich mich umdrehte, war sie verschwunden. Ich legte das Buch zwischen die Medikamentenschachteln. Élise atmete entspannt. Ich wollte aufstehen, als sie mit festem Griff meine Hand nahm. Sie machte nicht einmal die Augen auf. Sagte nur ein paar Worte, bevor sie ganz einschlief.
    »Ich weiß, dass ich sterbe, Paul. Aber das ist nicht so schlimm. Das Einzige ist, dass ich nicht hier gehen will. Ich will zu Hause gehen.«
    Ich versprach ihr, was ich nicht halten konnte, ich sagte ihr, was sie hören wollte, was sollte ich sonst tun? Ich zog meinen Mantel an und ging hinaus, auf dem Flur redete ihre Tochter allein vor sich hin, das Handy am Ohr. Draußen war es grau und kalt, Bréhel hatte sich nicht geirrt, diesmal war es so weit, der Winter begann. Ich holte die Kinder bei Nadine ab und wir gingen heim. Wir würden das Wochenende im Warmen verbringen, das Haus schmücken, die Geschäfte der Altstadt plündern, Crêpes essen, vielleicht ins Kino gehen, zu McDonald’s, ins Schwimmbad. Diesmal würde ich mich um sie kümmern, mich ihnen ganz widmen, ich würde aufhören, neben ihnen her zu leben, um wirklich mit ihnen zu leben, ich würde aufhören, mich in mich selbst zurückzuziehen und mich in eisigem, wattigem Nichts, in weißer, stiller Leere zu verlieren. Ich würde aufhören zu fliehen. Ich würde ihnen nicht mehr von der Seite weichen, ich würde mit ihnen hinausgehen, Spiele und Geschichten erfinden. Ich würde mit ihnen über ihre Mutter sprechen und über das Leben danach.

III IN WEITER FERNE
    COMBE HOLTE MICH um sieben Uhr ab. Ich hatte bereits zwei Whiskys getrunken, und wir gossen uns noch zwei weitere ein, das brauchte er, um es auszuhalten. Er liebte das Boxen, aber es war seine Tochter, und es ging ihm durch und durch, wenn sie Leberhaken einstecken musste und er spürte, wie ihre Schläge am Leder des Kopfschutzes abrutschten. Wir nahmen sein Auto, eine alte Kiste mit zerschlissenen Polstern. Man hatte das Gefühl, in einem riesigen Aschenbecher zu sitzen. Über der Rückbank lag eine Decke voller Haare, übersät mit Papieren, Aktendeckeln und ungeöffneten Briefumschlägen. Die Suiten für Violoncello erfüllten das Wageninnere, dazu passten die Nacht und die vorüberziehenden Lichter in der Ferne, das Band der Autos, das durch die Felder auf die Stadt zulief. Combe schwieg, ungewöhnlich angespannt, ab und zu trällerte er mit seiner dunklen, schmeichelnden Stimme vor sich hin und sah mich verstohlen an, als wollte er etwas sagen, aber er verschluckte es und blickte wieder auf die Straße, die vom schwarzen Horizont aufgesaugt wurde. Ich ließ mich in meinen Sitz sinken und schloss die Augen, die Bewegung, der Alkohol und die Musik hüllten mich ein wie warme, weiche Watte, ich war schwer und ruhig, kurz davor, einzuschlafen.
    Das gewellte Plastikdach war mit Laub bedeckt, und von den Balken blätterte die Farbe ab. In der Halle mit rosafarbenen Wänden nadelte eine magere Tanne, vier Kugeln und drei Girlanden bildeten den ganzen Schmuck, die Hostessen, denen wir unsere Eintrittskarten zeigten, waren wie aus dem Ei gepellt und paillettenbesät, ihre Haut glänzte, und auf ihren Wangenknochen lag ein fliederfarbener Schimmer. An der Theke zapfte ein Mann Bier in Plastikgläser, wir nahmen vier und betraten den Saal, Combe hatte eine Vorliebe für die Ränge, da sah man besser als auf den Stühlen, meinte er. Ich persönlich war nicht davon überzeugt, sagte aber nichts, um uns herum ließen die Leute sich plaudernd nieder, die Turnhalle war viel zu groß für den Ring, das Parkett knarrte unter den Schuhen. Plötzlich gingen die Lampen aus, und die Stimme des Ansagers verlor sich im Raum. Alle fingen an zu grölen oder zu pfeifen. Dann schrumpfte der Saal auf einmal, ein Scheinwerfer tauchte den Ring in grelles Licht, und man sah nur noch ihn. Lichter
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