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Ganz die Deine

Ganz die Deine

Titel: Ganz die Deine
Autoren: Claudia Piñeiro
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Entfernung und stieg aus. Vorsichtig näherte ich mich dem See und versteckte mich hinter einem Baum. Da kam sie auch schon an, ganz die Seine. Genauer gesagt, Alicia, seine Sekretärin. Nie hätte ich geglaubt, sie könne imstande sein, einem verheirateten Mann einen Zettel mit einem Lippenstift-Herzen und den Worten »Ich liebe dich« zuzustecken. Eigentlich fand ich sie sogar nett. Ein hübsches Mädchen, unaufdringlich; ihr Stil war meinem ganz ähnlich. Sie lief auf Ernesto zu, warf sich ihm an den Hals, wollte ihn küssen, aber er schob sie zur Seite. Er wirkte verärgert. Sie begannen zu streiten. Sie weinte und umarmte ihn, er wurde immer wütender. Und ich immer ruhiger, diese Beziehung lief offensichtlich nicht besonders gut. In den siebzehn Jahren unserer Ehe hatte Ernesto mich niemals so schlecht behandelt. Er wollte aufbrechen, und sie versuchte ihn zurückzuhalten. Er machte sich von ihr los. Sie klammerte sich wieder an ihn, und da stieß er sie schließlich heftig von sich. Unglücklicherweise schlug sie im Fallen mit dem Kopf gegen einen umgestürzten Baumstamm und blieb reglos liegen. Ernesto war völlig außer sich, schüttelte sie, fühlte ihren Puls, versuchte es sogar mit Mund-zu-Mund-Beatmung. Alles umsonst, eine Katastrophe. Ich war ratlos, schließlich konnte ich nicht einfach hinter meinem Baum hervortreten und sagen: »Brauchst du Hilfe, Ernesto?«
    Am klügsten war es, erst einmal nach Hause zu fahren.

2
    »Hallo … Paula?«
    »Ja. Wer ist da?«
    »Lali … «
    »Ach, du bist es. Ich hab deine Stimme nicht erkannt. Ich bin noch ganz verschlafen.«
    » … «
    »Du weinst ja.«
    »Nein, jetzt nicht mehr. Aber vorhin schon.«
    »Hast du mit deinem Vater gesprochen?«
    »Nein. Und ich weiß auch nicht, ob ich das tun soll. Hast du gesehen, was für eine Laune der heute hatte?«
    »Ja, stimmt schon … «
    »Über alles hat er sich aufgeregt.«
    »Ist der immer so?«
    »Nein, nicht immer. Aber wegen der Reise dreht er völlig durch.«
    »Der Ärmste, er macht sich Sorgen.«
    »Genau: Wenn wir fliegen, dann weil wir fliegen, und wenn wir mit dem Bus fahren, dann wegen dem Bus.«
    »Mädchen: Dein Vater hat Angst, dass du mit einem ins Bett steigst! Der Ärmste.«
    »Bist du doof!«
    »Ist doch bloß ein Witz. Aber es ist auch witzig, gibs zu … «
    »Ich finde es überhaupt nicht witzig.«
    »Lach doch mal! Den ganzen Tag heulst du bloß rum.«
    »Als ob ich keinen Grund dazu hätte … «
    »Okay, schon gut.«
    »Und wenn du mit deiner Mutter sprichst?«
    »Null Chance. Meine Mutter existiert für mich nicht.«
    »Aber mit irgendwem musst du doch darüber sprechen.«
    » … «
    » … «
    »Ich glaube, ich rufe Iván an.«
    »Komm, hör auf, please. Das hast du ja schon versucht, und es war der totale Reinfall.«
    » … «
    »Jetzt wein doch nicht … «
    » … «
    »Besser, du sprichst mit niemand. Lieber erst nach der Reise, okay?«
    »Mein Vater kriegt einen Herzinfarkt!«
    »Genau deshalb: Besser, er stirbt erst nach der Reise.«
    »Du schaffst es noch und bringst mich zum Lachen … «
    »Versprich mir, dass du Iván nicht anrufst.«
    » … «
    »Los, versprich es mir.«
    »Okay. Ciao.«
    »Ciao.«

3
    Auf dem Rückweg fing es an zu regnen. Besser gesagt, es schüttete nur so. Die Scheibenwischer kamen gar nicht nach mit dem Wischen. Der linke war kurz davor, den Geist aufzugeben. Ich konnte kaum etwas sehen und fluchte lauthals über den Regen. Aber dann begriff ich, dass das Ganze auch sein Gutes hatte. Ich versuche immer, an allem das Positive zu sehen. Im Regen würden die Spuren des Unfalls sich verwischen, was für Ernesto von großem Vorteil wäre – für uns alle.
    Ich sah in den Rückspiegel. Die Straße war leer. Was Ernesto wohl in diesem Augenblick machte? Keinesfalls war er zur Polizei gegangen, um zu erzählen, was geschehen war, ausgeschlossen. Wer würde auch freiwillig vor aller Augen seine schmutzige Wäsche waschen? Unfall blieb Unfall. Wäre Ernesto zur Polizei gegangen, hätten die ihm bloß lauter unangenehme Fragen gestellt. Weshalb die Verabredung im Park? Worüber haben Sie gestritten? In welcher Beziehung standen Sie zu der Verstorbenen? Unangenehme Fragen, aber vor allem: Wozu? Schließlich war die Deine mausetot. Und bei Unfällen gibt es keine Schuldigen, sondern bloß Opfer. In diesem Fall zwei Opfer. Einerseits die Tote – sich jetzt noch Sorgen um sie zu machen, war zwecklos –, andererseits Ernesto: Er war durch den Unfall in eine äußerst
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