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Fruehstueck mit Proust

Fruehstueck mit Proust

Titel: Fruehstueck mit Proust
Autoren: Frédérique Deghelt
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wenigstens aufs Haus.«
    Umso besser, Geld habe ich nämlich auch nicht. Niedergeschlagen mache ich mich auf den Weg und hoffe, dass es einen Hausmeister gibt, der einen Zweitschlüssel besitzt. Ich muss irgendwie in die Wohnung kommen, mir Geld beschaffen, Anhaltspunkte finden, die mir sagen, wie zum Teufel ich in diesem Film gelandet bin. Im Vorübergehen werfe ich einen Blick auf die Zeitung. Freitag, 12. Mai 2000. Ich stehe eine Zeitlang wie benommen vor dem Verkaufsständer des Kiosks.
    »Nimm sie ruhig mit, Marie, du kannst später bezahlen«, ruft mir eine dicke Frau zu, die einen Stapel Zeitschriften aus einer Plastikhülle zerrt.
    Gestern Abend war Donnerstag, der 12. Mai 1988. Ich weiß es genau. Doch hier steht schwarz auf weiß, dass seitdem zwölf Jahre vergangen sind. Was ist passiert? Ich kann mich an nichts erinnern … Nur an eine siebte Etage irgendwo am Montmartre. Ich sehe Pablo, wie er mich auf den Balkon hinausführt, um Sacré-Cœur zu bewundern. Pablo, das Gesicht in meiner Bluse vergraben, wie er zwischen den Blumentöpfen hinausschreit, dass er mich begehrt. Pablo, der in diesem Augenblick meine einzige Brücke zum Gestern ist.
    Zwölf Jahre sind ins Land gezogen … Habe ich noch eine Mutter? Meine alten Freunde? Eine Arbeit? … Vielleicht werde ich dort erwartet. Aber wo? Auf dem Nachhauseweg frage ich mich, was wohl aus meiner alten Wohnung geworden ist.
    Ich stolpere über den Zahlencode an der Tür. Jemand verlässt das Haus und grüßt mich.
    »Guten Tag, Madame de Las Fuentes, wie geht’s?«
    Aha, ich bin also verheiratet. Ich murmele ein »Sehr gut, danke« und schiebe mich durch die geöffnete Tür.Im Treppenhaus treffe ich die Concierge und frage sie mit klopfendem Herzen, ob sie einen Zweitschlüssel zu unserer Wohnung besitzt.
    »Aber ja, Madame, Ihr Mann hat ihn mir erst gestern zurückgegeben.« Geliebter Pablo! »Haben Sie Ihren Schlüssel oben vergessen? Sie waren heute Morgen wohl noch nicht ganz wach, wie?«
    Wenn sie wüsste, wie tief ich immer noch schlafe!
    Als ich wieder in meiner – in unserer? – Wohnung bin, fühle ich mich etwas besser. Erschöpft, aber geborgen. Ich kann es nicht fassen. 2000! Das mythische Jahr 2000 … An der Uni haben wir uns immer vorgestellt, was wir alles im Jahr 2000 machen würden. Wir phantasierten herum, als ginge es um einen Science-Fiction-Film. Ebenso gut hätten wir von einem Ausflug auf den Mond faseln können. Und wie es scheint, bin ich nun dort angekommen! Ich ergründe jedes einzelne Zimmer, aber wo finde ich Spuren dieser zwölf Jahre, die offenbar ohne mich stattgefunden haben? Schon bald fallen mir Fotoalben in die Hände. Wer hat sie zusammengestellt? Ich hatte nie Zeit für so lästige Aufgaben. Meine Fotos lagen immer wild durcheinander in einer großen Schachtel, auf die meine Freunde sich stürzten, um unseren letzten Urlaub Revue passieren zu lassen oder, noch besser, um sich über Szenen unserer Kindheit zu amüsieren. In unserer Clique bin ich die Einzige, die so viele Bilder hat. Ich mache gerne Fotos, seit meiner Jugend entwickle ich sie auch selbst.
    Ich habe ein bisschen Angst davor, das erste Album aufzuschlagen, und gehe ins Badezimmer – eine Idee, auf die ich noch gar nicht gekommen war: der Spiegel. Er gibt mir eine Antwort: Mein Gesicht ist schmaler geworden.Ich habe ein paar Fältchen an den Augen, aber immerhin erkenne ich die Frisur wieder. Ich kann nicht sagen, dass mir die Veränderungen in meinem Gesicht missfallen würden, aber ich komme einfach nicht darüber hinweg … Zwölf Jahre – einfach so verflogen?! Das Gefühl der geraubten Zeit ist mir unerträglich. Als mir wieder Tränen in die Augen schießen, steige ich unter die Dusche. Mir tut alles weh, wie nach einer wunderbaren Liebesnacht. Das ist die einzige Verbindung zu dem Abend gestern, die ich spüre. Ich ziehe einen Bademantel über, der weiblich genug aussieht, um meiner sein zu können, und inspiziere den Inhalt des – meines? – Kleiderschranks. Die Klamotten darin entsprechen nicht hundertprozentig meinem Geschmack, aber sie sind sehr stilvoll. Ich entscheide mich für das, was meines Erachtens am besten zu der jungen Frau passt, die ich gestern war: einen ziemlich kurzen Rock und ein enganliegendes geblümtes T-Shirt. Beim Anziehen wage ich es endlich, mich zu betrachten. Der Bauchnabel – gebogen wie ein Zirkumflex. Und plötzlich wird mir klar: Ich war schwanger. Ich habe neun Monate lang ein Kind in mir getragen. Ich habe
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