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Frostblüte (German Edition)

Frostblüte (German Edition)

Titel: Frostblüte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoë Marriott
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Sonnenrechteck des Türschlitzes mich warnen würde, falls sich jemand näherte, zerrte ich die Matratze vor und setzte mich so darauf, dass niemand in die Ecke der Zelle sehen konnte. Ich zog das Lederband über den Kopf und küsste hastig den glatten Wolfszahn.
    »Verzeih mir, Vater«, flüsterte ich.
    Ich nahm den Zahn fest in die Hand – der Verband um meine Finger erwies sich dabei als hilfreich – und begann auf die steinharte Erdoberfläche unter dem Spalt einzuhacken. Die ersten paar Zentimeter Erde ließen sich fast nicht durchbrechen. Schweiß rann mir über die Stirn. Ich biss die Zähne zusammen und hieb fester zu, die Drohung des Ziegenhirten im Kopf. Er würde mir schlimmere Schmerzen zufügen als das hier.
    Die gezackte Zahnwurzel bohrte sich in meinen Daumen und der Verband um meine Hand begann sich zu lösen. Die Anstrengung ließ meinen Kopf schmerzen.
    Der Boden bekam kleine Löcher. Dann brach er auf.
    Mit einem Seufzer der Erleichterung wischte ich die Erde von dem Zahn, hängte das Lederband wieder um den Hals und versteckte es sorgfältig unter meinem Hemd. Ich musste erst einen Augenblick lang meine steifen Finger lockern, bevor ich den Löffel in die Hand nehmen konnte.
    Ächzend schob ich den Rand der Löffelfläche in den Spalt, den ich aufgehackt hatte, und brach die obere Schicht weg, um zu der weicheren Erde darunter vorzudringen. Nach ein paar Minuten bohrte sich der Löffelstiel schmerzhaft in die wunde Stelle auf meinem Daumen. Mit einem leisen Fluch hielt ich kurz inne. Ich konnte mir keine Blase erlauben, denn sie würde meine Arbeit verlangsamen. Nach kurzem Überlegen wickelte ich den Verband von meinen Fingern und anschließend fest um den Löffelstiel. Ich prüfte den Griff und nickte befriedigt. Gut.
    Die Wunde, die der Räuber auf meiner Hand hinterlassen hatte, war ein schmerzhafter roter Strich, der beim Graben heftig juckte, doch ich schenkte ihm ebenso wenig Beachtung wie dem Knurren meines Magens und den Splittern, die von der Unterseite der Wand drohten. Ich wusste, dass sich schon morgen Schorf auf der Wunde gebildet haben würde, und am Tag danach würde sie, ohne eine Spur zu hinterlassen, verschwunden sein. Bei mir heilte alles schnell. Sehr schnell. Und ich bekam nie Narben. Das war so, seit der Wolf zum ersten Mal Besitz von mir ergriffen hatte. Hätten die Bergwächter mitbekommen, wie schnell ich mich erholte, hätten sie nicht so leichtfertig die Handschellen gelöst.
    Es gelang mir, aus der Ecke der Zelle einen Abschnitt harter Erde auszuheben, der etwa einen Fuß breit war. Die Erdbrocken schob ich unter die dünne Strohmatratze. Sie beulte sich seltsam aus, doch da auch das Bettzeug unförmig war, würde es hoffentlich niemandem auffallen. Dann hörte ich Schritte. Ich schob hastig meine Grabwerkzeuge unter die Matratze und rollte mich vor dem Loch, das ich ausgehoben hatte, zu einer Kugel zusammen, als sich die Türöffnung wieder verdunkelte. Jemand fluchte aufgebracht, als er die Schweinerei entdeckte, die ich angerichtet hatte. Ich hielt den Kopf gesenkt und wartete darauf, dass er weggehen würde. Doch er stieß noch mehr Flüche aus und schlug gegen die Tür, während er übellaunig das vergeudete Essen und das zerschlagene Geschirr wegräumte. Nachdem die Geräusche verstummten, wartete ich noch eine Minute, um sicher zu sein, dass er nicht zurückkam, dann machte ich mich wieder an die Arbeit.
    Als das Sonnenrechteck so weit über die Wand gewandert war, dass es über meinem Kopf hing, war der Spalt groß genug, um einen Arm und meine Schulter hindurchzuschieben. Ich konnte hohes Gras und Gestrüpp durch die Öffnung erkennen, außerdem die Haufen dunkler Erde, die ich aus der Zelle geschaufelt hatte. Falls jemand beschloss, einen Spaziergang um das Gefängnis herum zu machen, war ich tot. Der Gedanke ließ mich bloß noch schneller weitergraben.
    Ich hatte die Arbeit gerade unterbrochen, um einen Splitter aus meinem Handrücken zu ziehen, da verschwand das Sonnenlicht in der Zelle erneut. Stirnrunzelnd sah ich auf. Ich hatte keine Schritte gehört. Hatte sich eine Wolke vor die Sonne geschoben?
    Als Lucas Stimme durch die Tür drang, machte ich vor Schreck einen Satz.
    »Man hat mir berichtet, dass du dir nichts aus unserem Essen machst«, sagte er. »Gibt es dafür einen besonderen Grund?«
    Ich kauerte mich noch tiefer in die Zellenecke, um mit meinem Körper so viel wie möglich von dem Spalt zu verdecken.
    Ich hörte einen dumpfen Schlag –

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