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Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Titel: Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
Autoren: Sabine Appel
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relativierte die historische Darstellung der Lebensgeschichte Jesu Christi sowie die Wundererzählungen der Evangelien, indem der Kritiker all dies als Sinnbilder, als Mythen betrachtete vor dem Hintergrund historischer Bedingtheiten und der Ausgangssituation ihrer Autoren. Eine Entmystifizierung, aber keineswegs eine Abwendung von den Ideen. Etwas, das Nietzsche bis zum Schluss beibehält, auch als er schon mit großem Donnerschlag das Christentum zertrümmert und in die ewigen Jagdgründe geschickt hat, ist «die Idee der Menschheit» (D. Strauss), die sich in Jesus Christus verkörpert. Jesus von Nazareth ist der erste und zugleich einzige Christ, der das «Himmelreich auf Erden» gelebt hat, wird Nietzsche dann einmal sagen. Und diese Idee hat auch bei Strauss durchaus etwas Bleibendes. Viel radikaler wurde dieser schließlich in seinem 1872 erschienenen Werk «Der alte und der neue Glaube». Gründlich und ohne sinnfälligen Restbestand demontierte Strauss da die Bibel, die keiner philosophischen Vernunftprüfung standhalte. Allein schon die göttliche Dreifaltigkeitslehre – was für ein Humbug! Des weiteren die Mär von der jungfräulichen Empfängnis, von Christi Auferstehung und Himmelfahrt, die die Jünger nur erfunden hätten, weil sie so enttäuscht und frustriert waren, und von der göttlichen Erschaffung der Welt in nur sechs Tagen (was gar nicht gehe, so Strauss). Die Geschichte vom Sündenfall offenbare – neben den Geschichten von bösen Dämonen – die hässlichsten Seiten des alten Christentums, während der Glaube an die Unsterblichkeit angesichts menschlicher Ängste und Hoffnungen zwar sehr begreiflich sei, aber darum eben doch illusorisch. Solche «Gegnerschaften» erledigte der Essayist Friedrich Nietzsche mit spitzer Feder und in wenigen Sätzen. Sie passten aber doch in die Zeitstimmung, die sich so materialistisch wie möglich gab, notfalls in ihrer plumpesten Form. Ein anderes Werk, das sich mit diesen Zeitströmungen differenziert auseinandersetzte, erschien 1866, also mitten in Nietzsches Leipziger Zeit, und er las es mit großem Interesse: Friedrich Albert Langes «Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart». Lange differenziert zwischen dem Materialismus als Weltanschauung und als Forschungsprinzip, und indem er ihn dezidiert darstellt in seiner Entwicklung von der Antike bis Kant, diskutiert er zugleich seine Möglichkeiten und Grenzen, also auch die Bereiche des menschlichen Geistes, die ihn überschreiten und die reinen Sinnesdaten und Erfahrungstatsachen zu höheren Einheiten zusammenfassen, darin aber auch, in der Kunst, in den Ideen, der Religion, als Symbolwerte höheren menschlichen Strebens Berechtigung haben. Das Buch legte den Grundstein zum Neukantianismus. Nietzsche war nach der Lektüre in den Diskussionen auf der Höhe der Zeit, und er entdeckte einen epochalen Philosophen des letzten Jahrhunderts, um den er als Denker, der er selbst war und werden wollte, dauerhaft nicht herumkam: Immanuel Kant. Was «Kritik» bedeutete im Sinne von Textkritik, Editionskritik, Überlieferungskritik, hatten ihm all seine emsigen Philologen in Schulpforta, Bonn und Leipzig eingehend demonstriert. Was Kritik an den Glaubenssätzen bedeutete, die ihm die Vorväter- und -mütter im besten Sinne vermittelt hatten, als schönen Kinderglauben, der Trost gab und Halt, hatte er frühzeitig geahnt, als er nur etwas tiefer hineinblickte, um sich am Ende der Sache zu stellen. Aber was Kritik überhaupt war, als Haltung, als Ansatzpunkt, Grundsatz und Rüstzeug, Voraussetzung, CONDITIO SINE QUA NON , und auf alles angewandt, was man betrachtete, lehrte ihn Kant als Vertreter der Königin aller Wissenschaften: Kritik war die Bedingung der Möglichkeit menschlichen Denkens. Dies wohl beherzigt, konnte man sich in alle Löwenkäfige werfen.
    Was aber war nun mit Gott? Wie stand er zu ihm, der Überflieger, der seine Wissenschaftskarriere wie nebenher machte und als Privatdenker inkognito schon so weit ausholte? Bereits in den Bonner Semesterferien war Friedrich Nietzsche zum Entsetzen seiner Familie nicht mehr zum Abendmahl mitgegangen, und es gab offenbar einige schmerzliche Dispute darüber mit seiner Mutter. Das Ganze war für die Mutter vorläufig zu belastend, um weiter vertieft zu werden. Man begrub das einstweilen in beiderseitiger Rücksicht. Aber dass Nietzsche das Theologiestudium aufgegeben hatte, war von Leipzig an klar. Er äußerte sich noch immer nicht
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