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Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Titel: Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
Autoren: Sabine Appel
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einer Vereinigung der evangelisch-protestantischen Kirche, die die Zielsetzung hatte, den kirchlichen Bedürfnissen der in der Diaspora lebenden Glaubensgenossen nach Kräften Abhilfe zu leisten – für Tante Rosalie war das katholische Rheinland schon die Diaspora. Gut, dass weder die Tanten noch die Mutter noch irgendjemand im Umfeld des Pfarrerswitwenhaushaltes wusste, was Friedrich in seine Notizhefte schrieb! Als die Naumburger lesen mussten, der Student besuche in Bonn unter anderem kunstgeschichtliche Vorlesungen, machte sich Tante Rosalie große Sorgen – der Neffe werde am Ende doch nicht «Belletrist»? Nein, meinte das Fränzchen, das die Mär vom Theologiestudium immer noch glaubte, ihr Fritz doch nicht, ganz sicher nicht. Aber es wäre ihnen schon allen lieber gewesen, der Studiosus hielte sich wieder mehr in ihrem Einzugsbereich auf, um besser unter Kontrolle zu sein; ihre Gebete wurden offensichtlich erhört.
    Im Oktober 1865 wechselte Nietzsche, dem renommierten Ritschl folgend, nach Leipzig, und hier, in der Einsamkeit seiner Studierstube, war er in der Lage, wieder so etwas wie sein geistiges Zentrum zu finden. Was er auskämpfte, hatte mit Gott eigentlich gar nichts zu tun, sondern mit seinen unterschiedlichen Neigungen, Begabungen, Affinitäten, die er als gegenläufig empfand und die am Ende auf die Ambivalenz von Wissenschaft und Kunst hinausliefen. Da war einerseits die Musik. Für Friedrich Nietzsche gab es nichts Größeres. Aber welche Beziehung hatte er selbst zu ihr? War es nicht doch seine Bestimmung, zu komponieren, ihr also im produktiven Sinne sein Leben zu weihen? Er hatte komponiert, seit er denken konnte, beflügelt von Stoffen, die ihn stark anregten, und eine Tonwelt zu seiner kraftvollen Sprach- und Bildwelt kreiert, aber außer elementarem Klavierunterricht noch in den Jahren des Naumburger Domgymnasiums besaß er keinerlei musikalische Ausbildung. Die Diskrepanz wurde deutlicher, als er sich nach und nach Menschen stellte, die die Musik professionell trieben. Er mochte auf eine genialische Weise Klavier spielen, mit Klangwelten experimentieren und auf dem Instrument improvisieren – man legte ihm leider nahe, dass er den Kontrapunkt nicht beherrsche und in der Kompositionslehre quasi von vorn anfangen müsse. Nietzsche war schwer gekränkt. Und mit dem Dichten war es also nicht anders? Auch diese Erwägung, schmerzliche Abschiede, wenn er die Konsequenzen durchdachte, fällt in die Bonner Zeit. Wissenschaft, Philologie – hier hatte er sein Handwerk gelernt, die Schulpfortaer Basis zur kritischen Erforschung der Sprachen des Altertums genügte allen wissenschaftlichen Anforderungen. Außerdem stellte Nietzsche heraus, dass ihm die Strenge der philologischen Wissenschaft ein Gegengewicht sein sollte gegen seine «wechselvollen und unruhigen bisherigen Neigungen» , gegen die romantischen Entgrenzungen, denen er sich manchmal so unkontrolliert hingab und die ihn innerlich so gefährdeten. Friedrich Ritschl hatte die sogenannte «Bonner Schule» begründet. Das griechisch-römische Altertum sollte in seinen Schriften, die über die Jahrhunderte durch immer neue Abschriften und Übersetzungen immer mehr an Originalität eingebüßt hatten, so ursprünglich wie möglich erfasst und gewissermaßen wiederhergestellt werden. Das war Kleinarbeit im ganz großen Stil. Wo war ein Text verfälscht? Welche Wendung war nachträglich eingefügt, und wie lautete eine Periode, ein Satz, ein Teilsatz in seiner Urfassung? Lautverschiebungen und andere historisch-sprachliche Entwicklungsvorgänge wurden einbezogen, verglichen und eventuell für unverträglich mit einer Sprachvariante erachtet, um das «Orginal» herauszukristallisieren. Man musste zu entsagungsvoller Strenge geboren sein, um sich dergleichen zur Lebensaufgabe zu machen. Ritschl war sehr erfreut, im Leipziger Vorlesungssaal seinen Bonner Studenten Nietzsche wiederzusehen. Er wurde sein sehr spezieller Student, der ganze Stolz seines Lehrers. Nietzsche war immer auf der Suche nach Vaterfiguren, und so war dieser begnadete Lehrer ganz sicher auch ein entscheidender Faktor, dass er dem Fach treu blieb und eine wissenschaftliche Laufbahn damit begann.
    «Schopenhauer als Erzieher» – eine weitere Vaterfigur. Friedrich Nietzsche ist vielleicht der Erste, aber bestimmt nicht der Letzte, der seine Schopenhauer-Lektüre, die Initialzündung bei der Entdeckung des Schopenhauer’schen Werks mit schicksalhaftem Geheimnis umgibt. Das
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