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Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)

Titel: Friedrich Nietzsche: Wanderer und freier Geist (German Edition)
Autoren: Sabine Appel
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ist unwahrscheinlich, dass Friedrich Nietzsche einen seiner Lehrer, und wenn er noch so aufgeklärt war, vielleicht sogar Sympathisant der 48er-Revolution, an seinen Umsturzphantasien tausendachthundertzweiundsechzigjähriger christlicher Lehre teilhaben ließ. In den Ferien traf er sich nach wie vor mit seinen alten Naumburger Freunden Pinder und Krug, und mit diesen hatte er einen literarisch-musikalischen Verein namens «Germania» gegründet. Er schrieb die Texte dafür, und die Freunde mussten sie dann mit ihm diskutieren. Da die Knaben auch eine Vereinskasse hatten, kauften sie sich von den Mitgliedsbeiträgen irgendwann einen Klavierauszug von Wagners «Tristan und Isolde». Schwester Elisabeth hat überliefert, wie grauenvoll der Versuch für die Umgebung gewesen sein muss, als Gustav und Friedrich die neuartigen, harmonisch sehr unkonventionellen Musikstücke, die niemand von ihnen jemals zuvor in der Opernrealisierung gehört hatte, gesanglich zur Darbietung brachten. Auf das Geheul hin habe sich, so Elisabeth, sogar eine taube Nachbarin aus dem Fenster gelehnt, in der Annahme, es sei ein Feuer ausgebrochen, und daher der Lärm. Jedenfalls war Friedrich Nietzsche von dem Tag an, wie er feststellte, Wagnerianer. Er hat Unzucht mit der Musik getrieben. Jedesmal brach er mit mysteriösen Symptomen zusammen, wenn er zu viel moderne Musik konsumiert hatte – Liszt, Schumann, Wagner, Berlioz. Das fing früh an, und er wusste, dass die Musik seine Art Sündenpfuhl war, eine schädliche Droge, von der er nicht lassen konnte. Überhaupt lag der Schüler Nietzsche viel auf der Krankenstation: Migräne, Magenbeschwerden; «Congestionen nach dem Kopfe» trug der Institutsmediziner ins Krankenregister ein – sie wurden mit Schröpfköpfen behandelt. Zu viel Blut im Kopf also. Wie seine Mitschüler berichteten, hatte er schon in der Schulpforta-Zeit einen merkwürdig schleppenden Gang. Er ließ sich in den Sommerferien 1862 in Naumburg photographieren, und diese Photoserie zeigt den Siebzehnjährigen, der seine damals außerordentlich langen Haare mit Pomade nach hinten gekämmt hat, mit einem aufgedunsenen Gesicht; auch allgemein wirkt er ziemlich gedrungen. Der stiere Blick, den alle hervorheben, die Friedrich Nietzsche gesehen haben, kommt auch schon heraus. Er hat damals Hölderlin sehr verehrt und gegen Mitschüler und Lehrer die angebliche «Tollhäusler»-Dichtung verteidigt. Andere von ihm verehrte Dichter waren Jean Paul und Lord Byron. Byrons «Manfred» hat ihn ein Leben lang fasziniert und begleitet. Der «Monolog eines Sterbenden, in den tiefsten Fragen und Problemen wühlend, erschütternd durch die furchtbare Erhabenheit dieses geisterbeherrschenden Uebermenschen» sprach etwas in ihm an, das ihn nicht losließ. Der «Übermensch» – da also ist er schon. Eine Faust-Figur, die von einem dunklen Schicksal, von Schuld und von seltsamen Obsessionen beherrscht wird. Es geht um Inzest bei «Manfred» und bei Lord Byron, doch der (auto-) biographische Hintergrund interessiert Nietzsche nicht, nur das Ergebnis, der Ausdruck, der «Sturmdrang eines Feuergeistes, eines Vulkans, der bald glühende Lava verheerend einherwälzt, bald, das Haupt umdüstert von Rauchwirbeln, in dumpfer, unheimlicher Ruhe auf die blühenden Gefilde herniederschaut …» Nach derartigen ästhetischen Vorgaben hatte er auch seine «Ermanarich»-Dichtung samt Vertonung bewerkstelligt. Die Geschichte des alten gotischen Recken, der im Alter von hundertzehn Jahren seinen Feinden erliegt, vorher noch für eine Jungfrau erglüht und sie von wilden Pferden in Stücke reißen lässt, weil sie ihm untreu ist, hat Nietzsche im Unterricht kennengelernt, und das daraus entstandene Gedicht: «Ermanarichs Tod» bekam er mit einer «2+» benotet. Die unheilschwangere Szenerie, die da gezeichnet wird, «Gothic Novel» in Reinform, wirkt stellenweise ein wenig klischeehaft: Totenstille und krächzende Raben als Unglücksboten über den nächtlichen Wipfeln, mahnende Orkane und schauerlich starrende Felsen, «Blutwolken und fahle Glut, rasche Flut», «blutige Nebel» – nun ja. Aber auch hier kündigt sich eine «Götterdämmerung» an, wörtlich genannt. Wofür steht sie? Für welches Ende, für welchen Anfang? Tante Rosalie, die schwache Nerven hatte, wünschte ihrem Neffen zum neunzehnten Geburtstag 1863 das Allerbeste, Kraft des Geistes, Kraft des Willens und Kraft des Körpers vor allem in diesem letzten Schuljahr vor der Universität: «Wie oft
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