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Fremde am Meer

Fremde am Meer

Titel: Fremde am Meer
Autoren: L Olsson
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Ganzes zu begreifen.
    Unser Leben hat seine eigene Chronologie. Ein Ereignis führt zum anderen. Eine Tat hat ein Ergebnis, das zur Grundlage für unser nächstes Handeln wird. So gesehen, schaffen wir uns immer eine Art Kausalität. Ich bin mir nicht sicher, ob sie eine Illusion ist, aber ich weiß, dass sie hilfreich sein kann.
    Jetzt wünschte ich sie mir.
    Allerdings schien es sehr viele Handlungsstränge zu geben. Sehr viele Personen, die in den Dramen, die mein Leben ausmachten, unabhängig voneinander agierten. Und sie alle schienen sich gegenseitig auf eine Weise zu beeinflussen, die unmöglich voll zu erfassen war.
    Ich wusste damals bereits, dass es keine absoluten Gewissheiten gibt. Früher hatte ich geglaubt, die Naturwissenschaften böten sie, lieferten Gesetzmäßigkeiten, die unverrückbar seien. Deshalb hatte ich in der Schule auch die naturwissenschaftlichen Fächer am liebsten gehabt und später Medizin studiert. Ich glaubte, sie würde mir eine Welt der absoluten Wahrheiten eröffnen. Doch je tiefer ich in sie eintauchte, desto weniger absolut erschienen sie mir. Auch hier gab es Widersprüchlichkeiten. Neue Forschungen machten alte Befunde obsolet. Und hinter jeder Antwort und Erklärung stand immer wieder die nächste offene Frage. Es war, als beackerte ich ein Terrain, das allmählich vertraut wurde, aber mit einem ständig wachsenden Bewusstsein für eine weitere unbekannte oder nicht erkennbare Realität jenseits davon. Jeder Schritt führte mich tiefer ins Unbekannte. Und das Unbekannte wuchs, während das, was ich wusste, zu schrumpfen schien.
    Ich lebte seit fast fünfzehn Jahren in diesem kleinen, entlegenen Ort. Überwiegend allein, was mich überhaupt nicht störte. Es war ein selbst gewählter Zustand. Doch die Isolation verstärkte meine Unsicherheit, glaube ich, und mein Leben hatte etwas leicht Surreales bekommen. Ich stellte fest, dass ich mir wünschte, Ereignisse, Erinnerungen bekräftigen zu können. Ich fing an, mich nach einer Bestätigung dafür zu sehnen, dass mein Gedächtnis intakt war.
    Ich hatte meine Erinnerungen gehegt und sehr darauf geachtet, sie nicht zu verschleiern oder zu verändern. So waren sie bewahrt, aber nicht der Reihe nach geordnet. Ich wusste genau, wo sich jede einzelne befand und was sie enthielt, doch die Erinnerungen existierten in einer Art Vakuum, jede für sich getrennt von den anderen. Ich kann nicht erklären, warum es sich so anfühlte. Es war, als schleppte ich ein unsortiertes Bündel mit mir, präsent nur als konstante Last.
    Ich dachte, wenn ich jede einzeln hervorholen und in die richtige Reihenfolge bringen könnte, würde die Last womöglich leichter. Die schmerzlichen Erinnerungen würden vielleicht erträglicher, wenn ich ihnen ein Davor und ein Danach zuordnen könnte. Ich glaube, ich hoffte auf Verstehen. Und auf Vergebung vielleicht. Nicht von anderen, sondern von mir selbst, damit ich mich endlich mit einer gewissen Milde betrachten konnte. Nicht mit Liebe – die erwartete ich bestimmt nicht. Nicht mit Mitleid, keinesfalls. Mit Empathie vielleicht. Für das kleine Mädchen, das ich einst gewesen war. Für die junge Frau. Und für die ältere Frau, die ich geworden war.
    Ich glaube, ich hoffte auf ein Verschmelzen der Erinnerungen zu einem fassbaren Ganzen.
    Das auch mich zu einem ganzen Menschen machen würde.

3
    Es war ein Donnerstag. Ich hoffte, Ika würde kommen. Sicher war ich nicht, aber einigermaßen zuversichtlich. Er wurde älter; unsere erste Begegnung lag fast ein Jahr zurück. Damals hatte ich ihn auf etwa sechs Jahre geschätzt. Er hatte noch seine Milchzähne gehabt. Irgendwie stolperten wir unten am Strand übereinander. Besser gesagt, stolperte ich dort über ihn. Wo auch sonst? Der Strand ist der Ort, an dem sich unser Leben abspielt, ob als Tragödie oder Komödie. Ich fand ihn mit dem Gesicht nach unten im Sand liegend; seine Füße berührten den Saum des Wassers. Es war nicht so, dass er vom Meer angespült worden wäre. Nein, ich erkannte seine Fußabdrücke im Sand und wusste, dass er sich absichtlich so hingelegt hatte. Seine Arme waren ausgebreitet und seine Hände in die Erde gegraben. Er sah aus wie ein gestrandeter Seestern, aber für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich die Vision, der schmale kleine Körper sei der eines Gekreuzigten. Immer wieder plätscherte das Meer an seine Füße. Er rührte sich nicht, obwohl ich sicher war, dass er meine Anwesenheit spürte. Es war vollkommen klar, dass er
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