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Fremde am Meer

Fremde am Meer

Titel: Fremde am Meer
Autoren: L Olsson
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das Meer funkelte mit blendender Intensität.
    »Ich glaube, ja«, sagte ich, von ihm abgewandt, »aber man kann nie wissen. Die Dinge verändern sich. Man selbst verändert sich und alles um einen herum auch. Das passiert einfach.« Ich kehrte an den Tisch zurück und setzte mich. »Aber doch, ich glaube wirklich, ich werde hierbleiben.«
    Er sagte nichts.
    »Was ist mit dir?«, fragte ich. »Wirst du immer hierbleiben?«
    »Nein«, entgegnete er rasch und schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Auf keinen Fall. Ich gehe weg. Weit weg.«
    »Aha«, sagte ich. »Warum?«
    Er zuckte die Achseln, als hielte er das für eine dumme Frage, die keine Antwort verdiente.
    »Bist du nicht glücklich hier?«
    Er stand auf und ging hinüber zur offenen Tür, wo er sich auf die Schwelle stellte und die eine Hand links, die andere rechts auf den Rahmen legte. Es sah aus, als drückte er fest zu. Er hatte mir den Rücken zugewandt und sagte nichts. Ich wartete.
    Er ignorierte meine Frage. »Bist du jetzt traurig?«, wollte er schließlich wissen, ohne sich umzudrehen. »Bist du traurig, wenn du hier bist?«
    Ich überlegte einen Moment, bevor ich antwortete.
    »Nein, ich bin nicht traurig. Ich bin eher glücklich. Ein bisschen glücklich auf eine traurige Weise.«
    Er blieb, wo er war, und ich konnte das Muskelspiel seines Rückens sehen. Aus irgendeinem Grund drückte er immer noch fest gegen den Türrahmen.
    »Komm und setz dich zu mir«, sagte ich, »dann erzähle ich dir von anderen Orten, an denen ich gelebt habe.«
    Er ließ sich Zeit, doch irgendwann kam er zurück und nahm wieder mir gegenüber Platz.
    Und dann sprachen wir über andere Orte.
    Ich glaube, wir waren beide erleichtert darüber, das Thema wechseln zu können.

4
    Jemand tat einmal etwas, das ich ihm erzählt hatte, damit ab, dass er sagte, so etwas komme im richtigen Leben nicht vor. Es sei zu abwegig, um glaubhaft zu sein. Dabei geschehen wirklich sehr abwegige Dinge. In der Tat ist das ganze Leben vieler Menschen äußerst abwegig. Meiner Meinung nach sind wir ständig von außergewöhnlichen Möglichkeiten umgeben. Ob wir uns ihrer bewusst sind oder nicht, ob wir sie ergreifen oder nicht, sie existieren. Was uns geboten wird und wir nicht wahrnehmen, bleibt am Rand der Straße liegen, die unser Leben darstellt, sodass sie gesäumt ist von ausgeschlagenen, ignorierten und nicht bemerkten Gelegenheiten, guten und schlechten. Zufällige Begegnungen und Ereignisse werden nur wirksam, wenn wir auf sie reagieren. Diejenigen, die wir vorüberziehen lassen, sind für immer Vergangenheit. Wir erfahren nie, wohin sie uns geführt hätten. Ihre Realisierung war wohl einfach nicht vorgesehen. Das Potenzial war da, aber nur für einen ganz kurzen Moment, bevor wir ihm bewusst oder unbewusst den Rücken zuwandten.
    Während ich mir mehr und mehr meiner wachsenden Rastlosigkeit bewusst wurde, kam mir auch der Gedanke, dass menschliche Körper wie durch Schwerkraft zueinander hingezogen werden oder durch ein anderes, mir unbekanntes Naturgesetz. Wir sind hilflos dagegen und nicht imstande, uns ihm zu widersetzen, werden zusammengebracht oder getrennt von einer Macht, die nichts mit unserem eigenen Willen zu tun hat. Wenn wir uns von oben sehen könnten, würden wir ein kompliziertes Muster erkennen: eine Kette aus scheinbar zufälligen, unbedeutenden Ereignissen und Entwicklungen, alle jedoch Teile eines kohärenten Prozesses mit einem bestimmten Ziel. Oder zumindest irgendeinem Ergebnis. Einer Reaktion, wenn man so will. Als ob eine Macht, über die wir keine Kontrolle haben, ein Experiment mit uns macht. Uns in verschiedenen Kombinationen zusammenführt, um zu sehen, was daraus entsteht.
    Mir wurde immer klarer, dass alles, was je in meinem Leben – und schon vor Beginn meines Lebens – geschehen war, dazu beigetragen hatte, mich dorthin zu bringen, wo ich jetzt war, körperlich und psychisch. So etwas wie eine überlegte Entscheidung gibt es nicht, davon war ich überzeugt. Es hatte eine Zeit gegeben, in der ich leidenschaftlich das Gegenteil vertreten hätte. Aber jetzt tat ich das nicht mehr. Nein, jetzt glaubte ich, dass in dem Moment, in dem wir eine Entscheidung fällen, klar ist, dass wir keine andere Wahl haben. Ich konnte mir einreden, dass es andere Möglichkeiten gab, doch die hatte ich nur bis zum Augenblick der Entscheidung. Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen, und man kann im Nachhinein nichts mehr ändern. Die Idee des freien Willens hatte für mich
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