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Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Titel: Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
Autoren: Dorinde van Oort
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wie sich jetzt gezeigt hat, gar nicht vollständig vorgelesen worden war. »Etcetera, etcetera«, hatte der Notar immer wieder gesagt, und er, ein Mansborg, ist da hineingetappt und konnte sich später nur noch dafür verfluchen, dass er nicht besser aufgepasst hatte.
Reiner Tor
, der er ist. Er hatte nur Augen für Ann gehabt, mit ihrem hübschen Hut und dem eleganten Cape, die ihm mit einem verschwörerischen Lächeln zugeflüstert hatte: »Alter Junge, es ist geschafft! Wir haben das Haus!« Er hatte lächelnd seine Unterschrift auf die angegebene Stelle gesetzt. Nicht hingesehen, was direkt dort drüber stand:
In Begleitung ihres hier zu ihrem Beistand erschienenen Ehemanns.
    Dass er es doch noch entdeckt hat, grenzt an ein Wunder. Er hatte nach Noten gesucht, die er nicht fand, hatte alles von unten nach oben durchsucht und war dabei auf die marmorierte Mappe gestoßen, die ganz zuunterst in der Schublade der Chiffonière lag – wo Ann sie offensichtlich versteckt hatte.
    Er hatte gedacht: Stimmt, ich muss noch meine Steuererklärung machen. Hatte seine Lesebrille aufgesetzt und nachder Police seiner Leibrente gesucht. Plötzlich hatte er den Kaufvertrag in der Hand, und dann war sein Blick auf die eine Zeile gefallen. Daraufhin hatte er sich auch ihren Ehevertrag noch einmal sorgfältig angesehen. Und plötzlich alles begriffen.
    Aber falls er Geld und Haus wirklich unwiderruflich verloren haben sollte, konnte er auf jeden Fall sein Testament noch ändern. Er konnte Ann enterben zugunsten seiner Kinder. Johan, Rita, Henk, Cora und   … Lepel.
    Lepel muss von diesem Betrug gewusst haben. Der hat fortwährend mit Ann unter einer Decke gesteckt, sich mit ihr zusammengetan, um ihn aus Zandvoort wegzubekommen.
    Und Lepel steht in Anns Testament, das hat er gesehen. Er hat bei dem Kauf ganz offensichtlich ein Eigeninteresse gehabt.
    Als Christiaan an der Kreuzung links geht, in die Birktstraat, hockt dort unter der großen Edelkastanie eine Krähe. Sofort fällt ihm Schuberts Lied ein.
    Eine Krähe war mit mir
    Aus der Stadt gezogen,
    Ist bis heute für und für
    Um mein Haupt geflogen.
    Krähe, wunderliches Tier
    Willst mich nicht verlassen?
    Meinst wohl bald als Beute hier
    Meinen Leib zu fassen?
     
    Kann Ann denn auf seinen baldigen Tod hoffen? Jetzt, da sie das Haus hat – was soll sie da noch mit ihm? Ist es so schlimm? Vielleicht sogar noch schlimmer. Und wenn sie ihn nie geliebt hat? Wenn sie ihn nur wegen Ouds Geld geheiratet hat?
    Krähe, lass mich endlich seh’n
    Treue bis zum Grabe!
     
    Er kommt an der Busstation von Tensen vorbei. Der Fahrplan war vor dem Krieg schon nicht zuverlässig, jetzt fahren die Busse überhaupt nicht mehr.
    Auf halber Strecke die Kerkstraat hinunter kommt er an der Buchhandlung Vissers vorbei, wo er mal, es kommt ihm wie gestern vor, fehlende Verdunkelungssachen geholt hat. Sie werden im Schaufenster wie Festartikel angepriesen:
     
    Schrankpapier
    Reißzwecken
    Verdunkelungs-Karton
    Immer vorrätig bei
    Buchhandlung Vissers.
    WANN MUSS VERDUNKELT WERDEN?
     
    Seine eigene Verfinsterung hat er nicht kommen sehen. So wie Ann ihn betrogen hat. Doch fällt es ihm selbst jetzt noch schwer, so schlecht von ihr zu denken. So besorgt, wie sie ist. Wie sie trotz allem heute Morgen noch seinen Blutdruck gemessen hat: »Mmm. Wieder auf der hohen Seite.« Sie fand, dass er blass aussah. Sein Kopf fühlt sich tatsächlich nicht gut an. Sicher von der Aufregung, von diesem elenden Streit der vergangenen Tage.
    Sie hat ihm eine Pille gegeben.
    Er nähert sich dem Turm der Oude Kerk. An der Kirchentür klebt eine Bekanntmachung. Er bremst seinen Schritt, bleibt stehen, um zu lesen.
     
    Chorvereinigung Excelsior   – Soest.
    Dirigent Jan Bartelsman.
    Aufführung von
Die Schöpfung
    Oratorium von Haydn
    am Montagnachmittag den 14.   April (Ostermontag).
     
    Er denkt an seine eigene letzte
Schöpfung
, 1930, in Eindhoven. Davor noch 1928, in Rotterdam und Delft. Also keine
Matthäus-Passion
. Auch hier nicht.
    Vorigen Sonntag   – Palmsonntag – hat er, zum ersten Mal seit so vielen Jahren, keine
Matthäus
gehört. Seit er sie selbst nicht mehr singt, ist er jedes Jahr wenigstens noch ins Concertgebouw gegangen. Seine letzte war 1935, in Zwolle, auch das schon wieder sechs Jahre her. Seine allererste war 1904, in Utrecht, unter Wagenaar, als er für den erkrankten Jesus einspringen durfte. Des einen Tod, des anderen Brot. So hatte seine Karriere begonnen. Seine Eltern saßen in der
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