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Frau Ella

Frau Ella

Titel: Frau Ella
Autoren: Florian Beckerhoff
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sprechen. Es geht um Frau Ella.«
    »Jetzt setzen Sie sich erst einmal.«
    Der Pfleger legte ihm die Hand auf den Rücken und führte ihn zu einem der braunen Plastikstühle.
    »Kommen Sie, setzen Sie sich. Sie sind ja vollkommen außer sich.«
    »Hören Sie«, setzte er an, »Frau Ella, die Dame auf meinem Zimmer, soll gegen ihren Willen unter Vollnarkose operiert werden. Das ist vollkommen absurd. Die wacht doch nie wieder auf! Sie kann doch nicht wegen eines Auges sterben! Man kann doch auch mit einem Auge leben! Das ist doch lächerlich!«
    »Herr Hanke, hallo, beruhigen Sie sich. Niemand wird gegen seinen Willen operiert, ob mit oder ohne Vollnarkose. Außerdem können wir Ihre Nachbarin heute wieder auf ihr eigenes Zimmer verlegen. Der Schaden ist behoben.«
    »Von wegen verlegen! Das hört man doch andauernd, dass alte Menschen erst im Krankenhaus wirklich krank werden und sterben, obwohl sie zu Hause noch jahrelang glücklich leben könnten. An denen verdienen Sie doch Ihr Geld!«
    »Herr Hanke, bitte, auf dieser Station stirbt überhaupt niemand. Kommen Sie, ich bringe Sie auf Ihr Zimmer. Sie müssen sich beruhigen. Es gibt keinen Grund zur Sorge.«
    Langsam, aber sicher ließ Sascha sich einlullen, wollte glauben, dass wahr war, was wahr sein sollte. Er stand auf und ließ sich den Flur entlang zurück zu seinem Zimmer führen. Was blieb ihm auch anderes übrig? Was war überhaupt mit ihm los? Er verlor den Kontakt zur Wirklichkeit. Er musste hier dringend raus.
    »Sehen Sie, jetzt haben Sie wieder Ihre Ruhe«, sagte der Pfleger, als sie das Zimmer betraten, und tatsächlich war da nur noch sein Bett. Frau Ella war verschwunden. Kein Mantel mehr im Schrank, keine Wäsche, kein kleiner blauer Koffer. Als wäre sie nie da gewesen. Er setzte sich.
    »Wollen Sie etwas zur Beruhigung?«, fragte der Pfleger.
    »Danke, es geht schon wieder«, sagte er und streckte sich auf seinem Bett aus. »Ich bin vollkommen ruhig.«
    Der Pfleger ging. Endlich war er wieder alleine. Er versuchte zu verstehen, was mit ihm los war. Was interessierte er sich plötzlich für diese alte Trulla, die ihm sein Zimmer vollpupste und ihn daran hinderte, sich einen runterzuholen? Wie kam er dazu, sich als Robin Hood des Gesundheitswesens aufzuspielen? Als Rächer der Rentner? Als bräuchten die seine Hilfe in dieser Gesellschaft, die einzig darauf ausgerichtet war, es ihnen recht zu machen. Sie waren doch schuld daran, dass er nicht weiterkam, dass dieses ganze Land wie gelähmt dalag, dass nichts passierte, um auch den Jungen eine Zukunft zu bieten. Wie sollte man denn da Energie entwickeln, wenn man wusste, die wenigen Früchte, die man irgendwann ernten würde, landeten in der Marmelade der Alten? Ihm war ja ganz offenbar einfach langweilig, dass er plötzlich auf braver Enkel machte. Sollte sie doch ein-schlafen und nicht mehr aufwachen! Sollten diese Verbrecher sie an ihre scheißteuren Apparate anschließen! Sollten die ihre Drecksmedikamente an ihr ausprobieren! Sie hatte ihre acht Jahrzehnte gehabt, noch dazu mit ihrem Mann als Versorger. Mit ihrer Rente könnte er wahrscheinlich eine ganze Familie ernähren. Ein ganzes afrikanisches Dorf! Und kleine Jungs, die spielen wollten, stopfte man mit Psychopharmaka voll, damit sie nicht störten und die Pensionsfonds schön Rendite abwarfen. Und die Alten durften selbst ihr Zahngold mit unter die Erde nehmen! Verdammt, das war ein Krieg, und er schlug sich bei der ersten besten Gelegenheit auf die Seite des Feindes! Er war ja vollkommen bescheuert. Er musste hier endlich raus!

3

    FRAU ELLA VERSUCHTE, sich zurechtzufinden. Mit nichts als ihrem Nachthemd bekleidet, saß sie auf einem speckig abgeriebenen Sofa. Sie wollte sich gar nicht erst vorstellen, was man in den Ritzen zwischen den glanzlosen Dielen alles finden würde. Entlang der Fußleisten tummelten sich ganze Herden von Staubschäfchen auf eingetrockneten Farbklecksen. Wie konnte ein Maler nur so wenig achtgeben? Wie konnte man einem Boden gegenüber so lieblos sein? Sie fröstelte, zögerte aber, sich die neben ihr liegende Strickdecke über die Schulten zu legen, aus Angst davor, einen ganzen Schwarm Motten auf sich zu ziehen. Sie ekelte sich nicht, nein, dazu hätte es mehr bedurft, doch sie hätte alles gerne etwas sauberer gehabt. So, wie sie es gewohnt war. Durch das Kastenfenster sah sie einen schattigen Hinterhof. Vereinzelt reflektierten die gegenüberliegenden Fenster Sonnenstrahlen. Es war also Tag. Sogar die Luft war
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