Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frankenstein oder Der moderne Prometheus

Frankenstein oder Der moderne Prometheus

Titel: Frankenstein oder Der moderne Prometheus
Autoren: Mary Shelley
Vom Netzwerk:
Ortes um Rat, und das Resultat dieser Unterredung war,
daß Elisabeth Lavenza ihren Einzug in das Haus meiner Eltern hielt.
Sie wurde mir lieber als eine Schwester – die liebliche, angebetete
Gefährtin meines Schaffens und meiner Erholung.
    Jeder hatte Elisabeth gern. Die Liebe und Verehrung, mit der sie
alle bedachten, die ihr näher traten, war mein Stolz und meine
Freude. Am Vorabend des Tages, an dem Elisabeth zu uns kam, sagte
meine Mutter zu mir: »Ich habe ein reizendes Geschenk für meinen
Viktor, morgen sollst du es haben.« Und als sie am Morgen das Kind
mir als die versprochene Gabe zeigte, faßte ich voll kindlichen
Ernstes ihre Worte so auf, daß Elisabeth mein sei, um sie zu
schützen, zu lieben und zu verhätscheln. Jedes Lob, das der Kleinen
galt, nahm ich so auf, als sei es ein Lob meines Eigentums. Wir
nannten einander beim Vornamen. Kein Wort ist imstande zu
schildern, was wir uns waren, um so mehr als sie bis zu ihrem Tode
meine einzige Schwester sein sollte.

Kapitel 2
     
    Wir wuchsen zusammen auf; ich war nicht ganz ein Jahr älter als
sie. Ich brauche nicht besonders zu betonen, daß uns Uneinigkeit
oder Streit fremd waren. Harmonie bildete die Grundlage unserer
Freundschaft, und die Verschiedenheit unserer Charaktere schien uns
eher noch fester zu binden als uns zu trennen. Elisabeth war
ruhiger und gesammelter als ich; aber bei all meiner
Leidenschaftlichkeit war ich doch ein Freund ernster Arbeit und
voll Wissensdurst. Ihre Lieblingsbeschäftigung war die Lektüre
unserer Dichter und die Schönheit der uns umgebenden
Natur, die erhabenen Formen der Berge, der
Wechsel der Jahreszeiten, die tiefe Stille des Winters und das
lebhafte Treiben der Sommersaison – alles das gab ihrer Phantasie
reichliche Nahrung. Während meine Gespielin ernst und staunend sich
dem Eindrucke der Dinge hingab, wollte ich ihrem Ursprung auf die
Spur kommen. Die Welt war mir ein Geheimnis, das ich unter allen
Umständen zu enträtseln mir vorgenommen hatte. Neugierde, der
Wunsch hinter die verborgenen Naturgesetze zu kommen, Freude, ja
Entzücken, als sich mir so manches Wunder auftat, sind die ersten
Gefühle, deren ich mich erinnern kann.
    Als mein Bruder auf die Welt kam, sieben Jahre nach mir, gaben
meine Eltern ihr Wanderleben ganz auf und siedelten sich in ihrer
Heimat an. Wir besaßen ein Haus in Genf und eine Villa in Belrive,
dem östlichen Ufer des Sees, etwas mehr als eine Meile von der
Stadt entfernt. Wir wohnten meist in der Villa und führten ein sehr
abgeschiedenes Leben. Ich liebte die Menschen in Mengen nicht, aber
ich schloß mich gern an Einzelne an. Deshalb war ich gegen meine
Schulkameraden ziemlich gleichgültig, faßte aber eine wahre
Freundschaft zu einem von ihnen. Henry Clerval war der Sohn eines
Genfer Kaufmannes, ein Knabe von hervorragenden Talenten und begabt
mit einer glühenden Phantasie. Er war unternehmend, kühn und liebte
die Gefahr um ihrer selbst willen. Er war sehr belesen, dichtete
selbst Heldensänge und begann Erzählungen von ritterlichen
Abenteuern zu schreiben. Er verfaßte für uns Tragödien und
Maskenspiele, zu denen ihm das Ringen im Tal von Roncesvalles, die
Tafelrunde des Königs Artus und die heldenhaften Kreuzfahrer, die
ihr Blut dahingaben, um das heilige Grab den Händen der Ungläubigen
zu entreißen, den Stoff gaben.
    Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Mensch eine glücklichere
Jugend verbringen kann, als wie es mir beschieden war. Meine Eltern
waren erfüllt vom Geiste wahrer Liebe und Güte. Wir empfanden, daß
sie nicht die Tyrannen waren, die uns nach ihren Launen lenkten,
sondern die Schöpfer all des Schönen und Guten, was wir genießen
durften. Wenn ich mit anderen Familien zusammenkam, kam mir das besonders zum Bewußtsein und
trug viel zur Befestigung meiner kindlichen Liebe bei.
    Ich war zuweilen heftig und leidenschaftlich; aber meine
Begierden richteten sich nicht auf Kindereien, sondern äußerten
sich in einem ungeheuren Lerneifer, der sich aber auch wieder nicht
unterschiedslos auf alles erstreckte. Ich gestehe, daß ich weder
der Struktur der Sprachen, noch gesetzlichen Vorschriften, noch der
Politik Geschmack abgewinnen konnte. Es waren die Geheimnisse des
Himmels und der Erde, die ich erforschen wollte; und ob ich mich
nun gerade mit der äußeren Form der Dinge oder mit den
Naturgesetzen oder mit der menschlichen Seele beschäftigte, immer
war meine Sehnsucht auf die metaphysischen oder im höchsten Sinne
physischen Geheimnisse
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher