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Föhn mich nicht zu

Föhn mich nicht zu

Titel: Föhn mich nicht zu
Autoren: Stephan Serin
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Verpflichtung
     bloß noch zum Schein nach. Und wir gingen dabei auch dazu über, uns handhabbarere Beobachtungsaufträge für die Hospitation
     auszudenken:
Zähle , wie oft der Lehrer einem Schüler ins Wort fällt! Achte besonders auf die sprachlichen Anomalien der Schüler! Zähle die Ähs
     des Lehrers! Achte darauf, wie oft ein Lehrer bei der Antwort eines Schülers laut aufstöhnt! Achte auf die Brüste der Schülerinnen
     und bringe diese in eine Rangfolge! Ordne die Schüler nach den Störungen Anorexie, Bulimie und Adipositas!
    Beim Biolehrer Rauter notierte ich mir einmal alle in der Stunde gefallenen Beleidigungen. Am Ende der fünfundvierzig Minuten
     gab es zwischen ihm und seinen Schülern praktisch ein Patt. Die Schüler hatten zwar quantitativ erheblich mehr geboten, |47| beispielsweise fünfmal
Opfer!
und dreimal
Spast!
, aber Herr Rauter wies mit
Spermarutsche!
und
Du kriegst gleich den Tafellappen in die Schnauze!
deutlich originellere Beschimpfungen vor. Zu einer Schülerin, die sich sehr aufreizend kleidete, meinte er sogar, nachdem
     sie zum dritten Mal in Folge daran gescheitert war, einen sprachlich keineswegs anspruchsvollen Arbeitsauftrag –
Lest den Text und fasst den Kreislauf des Wassers in Stichpunkten zusammen!
– halbwegs fehlerfrei vorzulesen:
Hör mal zu, du Lutschlolita! Wenn dein Lesevermögen nur halb so groß wäre wie deine Titten, dann müsstest du dir um deine
     Versetzung keene Sorgen machen.
Das Mädchen hatte nur verlegen gekichert, sich aber nicht beschwert. Alle anderen hatten lauthals gelacht. Noch verwunderlicher
     als die Reaktion der Schülerin war, dass Herr Rauter trotz seiner Ausfälle – die im Kollegium ihresgleichen suchten – bei
     der Schülerin sowie der Klasse insgesamt ausgesprochen beliebt schien.
    Kurz vorm Ende des ersten Halbjahres ließen André und ich das Protokollieren völlig sein. Ich ging nur noch hospitieren, um
     auf den Beobachtungsbögen Aktzeichnungen von meinen Kollegen anzufertigen. Allerdings so, wie ich sie mir in fünfzig Jahren
     vorstellte, als Menschen zwischen 105 und 115.   Damit sie sich nicht erkannten, wenn sie durch eine Unaufmerksamkeit meinerseits die Gelegenheit bekamen, einen Blick auf
     ihr Porträt zu erhaschen.
    Ganz am Ende des Halbjahres hatte ich den Beweis: Es wollte niemand die Beobachtungsbögen sehen. Auch nicht unser Hauptseminarleiter.
     Das Hospitieren sparte ich mir fortan.

|48| 6
Der Schüler nebenan
    Wenn ich die Vorhänge zur Seite schob, konnte ich sie sehen. Da ich in den Sommerferien zwischen erstem und zweitem Ausbildungsjahr
     in die Bernauer Straße gezogen war, hatte ich meine Schule nun vor der Haustür. Es waren keine hundert Meter. Ganz hinten
     der lange Gebäuderiegel 2 mit den naturwissenschaftlichen Fachbereichen. Davor Schulgarten, Hof und die zweigeschossige Turnhalle,
     teilweise verdeckt von Gebäude 1, dessen Fassadenplatten sich meinem Blick in ihrem ganzen Verfall darboten. Milchige Fensterscheiben,
     vergilbte Gardinen, mit Graffiti zugetaggte, graue, brüchige Wände. Am rostigen Gittermattenzaun ein paar kränkelnde Sträucher.
     Es war kein schöner Anblick. Dafür konnte ich den Schülern, unserer Sekretärin Frau Blasch, Herrn Stern, dem Direktor, und
     seiner Stellvertreterin Frau Witt nun beim Arbeiten zusehen. Und ich konnte länger ausschlafen und war nach dem Unterricht
     schneller wieder zu Hause.
    Zunächst erschien mir mein neuer Wohnort darum sehr praktisch. Wie sehr jedoch meine Lebensqualität unter ihm leiden würde,
     ahnte ich noch nicht. Natürlich war ich mir bewusst, dass zu viel Nähe zu den Schülern nicht wünschenswert war. Und natürlich
     wollte ich ihnen an den Nachmittagen, den Wochenenden und in den Ferien nicht ständig über den Weg laufen. Auch ich brauchte
     schließlich ein Privatleben. Aber ich war davon ausgegangen, dies sei möglich, obwohl mein Zuhause nur einen Steinwurf von
     meinem Arbeitsplatz entfernt lag. Denn die Ferien und die Wochenenden verbrachte ich sowieso oft außerhalb von Berlin, und
     die Woche über verließ ich praktisch nie meine Wohnung. |49| Klar, es gab immer wieder Einkäufe zu erledigen. Aber die Gefahr, meinen Schülern zu begegnen, war ein überzeugendes Argument
     dafür, diese meiner Freundin Melanie zu überlassen.
    Doch ich hatte die Rechnung ohne Frau Witt gemacht, die als stellvertretende Direktorin für die Stundenplanausarbeitung des
     Kollegiums zuständig war. «Sie haben es ja nicht weit zur Schule.
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