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Flucht über den Himalaya

Flucht über den Himalaya

Titel: Flucht über den Himalaya
Autoren: Maria Blumencron
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auch den etwas rundlichen Mönch, der uns nachts die Türe zu seinem Kloster geöffnet und die Kinder in das erste Bett seit ihrem Aufbruch aus Tibet gesteckt hatte.
    Vieles hatten sie über die Jahre vergessen. Doch manches war ihnen noch nah. Und als ich sie fragte, wie sie die Entscheidung ihrer Eltern, sie ins Exil zu schicken, heute bewerten, waren sie sich alle einig darüber, daß ihre Flucht aus Tibet – wenngleich hart und sehr tränenreich – der einzige Weg in eine bessere Zukunft war.
    Die letzten Meter unseres anstrengenden zweiwöchigen Marsches zum Grenzpaß waren vereist. Als ich zum wiederholten Male mit meinen Bergschuhen ungeschickt auf dem Gletschereis ausrutschte, packte Dhondup ein T-Shirt aus seinem Rucksack, zerriß es in zwei Teile und wickelte die Fetzen um seine Schuhe. Dann nahm er mich an der Hand und zog mich mit festem Tritt unter seinen Füßen hinter sich her. Bis hinauf an die Grenze. So ändern sich die Dinge des Lebens. Vor neun Jahren kam er mir als kleiner, schutzbedürftiger Junge entgegen. Nun half er mir hinauf auf den Paß.
    Dhondup ist nun siebzehn Jahre alt. Er ist ein sehr gut aussehender, kraftvoller und charismatischer Junge. »Viele Mädchen im Kinderdorf schwärmen für ihn«, erzählte mir Chime.
    Doch im Gegensatz zu seinem ›älteren Bruder‹ Tamding, der gerade neunzehn Jahre alt geworden ist, interessiert sich Dhondup noch nicht für Mädchen. Er will nach seinem Abitur Jura studieren. Sein Traum ist es, irgendwann in der tibetischen Exilregierung zu arbeiten. Jetzt schon verfolgt er mit großem Interesse im Fernsehen die Debatten im Kashang, dem tibetischen Parlament. Chime ist sich sogar absolut sicher, daß ihr jüngerer ›Bruder‹ einmal der zukünftige Premierminister des tibetischen Exils sein wird.
    Als einzige aus ihrer »new family« konnte Chime nicht mit uns zur tibetischen Grenze hochsteigen, weil sie für eine wichtige Prüfung lernen mußte. 2004 hat Chime den Sprung auf eine tibetische Eliteschule geschafft, in der die dreihundert besten Schüler aller tibetischen Kinderdörfer eine spezielle Ausbildung genießen. Statt Postern von Popstars und indischen Sternchen hängen nun Chemie- und Matheformeln über ihrem Bett. Und darunter türmen sich Bücher.
    Vor einem Jahr wollte Chime noch Astronomie studieren. »Warum Astronomie?« fragte ich sie.
    »Kannst du dich nicht erinnern?« antwortete sie: »Auf unserer Flucht mußten wir immer nachts wandern. Da leuchteten über uns die Sterne so hell, und ich habe mir vorgestellt, sie wären unsere Mütter und Väter, die auf uns herabschauen, um uns zu beschützen. Seitdem habe ich eine besondere Beziehung zum Himmel.«
    Chimes kleine Schwester Dolker interessiert sich nun schon seit mehreren Jahren für Medizin. Sie ist in ihrem Wesen zurückhaltender als die spontane, überschäumende Chime, aber dafür sehr zielstrebig. In Dolker kann ich heute schon die Ärztin von morgen sehen. Chimes Berufswünsche werden sich nach meinem Gefühl noch wandeln.
    Little Pema war körperlich und seelisch das schwächste Kind, das uns vor neun Jahren über den Himalaya entgegenkam. Und sie hatte es mit ihrem neuen Leben im Exil auch am schwersten. Doch im Schutze ihrer fünf Exil-Geschwister ist schließlich auch ihre Seele erblüht. Bei unserem Aufstieg zur Grenze in diesem Jahr begann sie einmal ganz bitterlich zu weinen, und ich fragte sie: »Weinst du um deine Mutter?«
    »Nein«, sagte sie: »Ich weine um all die Opfer, die der Aufstand in Tibet gekostet hat.«
    Pemas große Gabe ist das Mitgefühl. Sie will nach ihrem Schulabschluß Krankenschwester werden. Mit dem Heilen von Wunden hat sie ja Erfahrung.
    Lhakpa war von Beginn an unser stillstes Mädchen. Doch stille Wasser sind bekanntlich tief. Lhakpa ist wie das Schneeland: Weit, kraftvoll und voll menschlicher Wärme. Sie hat sich die innere Kraft des ehemaligen Nomadenmädchens bewahrt.
    Als Halbwaise hat Lhakpa ihre Heimat verlassen. 2007 ist auch ihr Vater gestorben. Nun hofft Lhakpa auf ein Wiedersehen mit jenem Bruder, der sie vor neun Jahren aus Tibet herausbrachte.
    Nachdem er seinen Kinderwunsch, Maler zu werden, als unrealistisch eingestuft hatte, beschloß Tamding vor einigen Jahren, Automechaniker zu werden: »Mit diesem Job kann ich später überall leben«, erklärte er mir: »Auf der ganzen Welt gibt es Autos, die repariert werden müssen. Und in meiner Freizeit werde ich malen.«
    Im Jahre 2007 haben Jörg, mein junger Assistent Jan und ich
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