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Flucht über den Himalaya

Flucht über den Himalaya

Titel: Flucht über den Himalaya
Autoren: Maria Blumencron
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einzige, der noch in Indien ist. Die anderen fünfkehrten schon bald nach ihrer Ankunft enttäuscht wieder in die Heimat zurück. Ihre Hoffnungen auf eine bessere Zukunft hatten sich nicht bestätigt, sie hatten das Gefühl, daß im Exil kein Platz für sie ist.
    Suja blieb, weil er sicher war, daß ich mein Versprechen halten und irgendwann zu Besuch kommen würde. Die strengen Regeln in der Transitschool und der etwas rüde Umgangston mit den Neuankömmlingen erinnerten ihn an seine Zeit beim Militär, und Suja litt so sehr darunter, daß er am Herzen erkrankt war.
    »Nimm mich mit, Zazie-la. Ich möchte zu den Kindern. Ich brauche mein Seelchen.«
    Als wir Sujas wenige Habseligkeiten zusammenpacken, schauen uns seine jungen Mitbewohner stumm zu. Beim Abschied wünschen sie Suja viel Glück. Sie scheinen sich für ihn zu freuen. Aus einer großen Menge von namenlosen Schicksalen hat er es geschafft, herausgehoben zu werden.
    In den nächsten Tagen unternehmen wir alle gemeinsam ausgiebige Ausflüge in die Ausläufer des Himalaya, wo das Wasser der Gebirgsflüsse in große, runde Steinbecken fällt.
    Als wir uns auf einer sonnigen Felsplatte ausruhen und unsere Füße in das eiskalte Wasser baumeln lassen, fragt mich Little Pema, ob es in Deutschland einen See ohne Ufer gibt. Ja, sage ich und verspreche den Kindern das Meer. Irgendwann werde ich es ihnen zeigen, und dann werden wir uns von hohen, überschäumenden Wellen an einen weißen Sandstrand werfen lassen, wo es bunte Muscheln gibt und ganz viel Zeit. Wo es endlich so viele gemeinsame Stunden wie Sandkörner gibt, die wir langsam durch unsere warmen Hände rieseln lassen.
    Wenn ich die Kinder heute vermisse, habe ich fünfundzwanzig Stunden ungeschnittenes Filmmaterial, auf denen ich sie mir ansehen kann.
    Am liebsten spule ich an die Stelle, an der Dolker ein tibetisches Kinderlied singt.
    Mamas sind das Beste auf der Welt.
    Ein Kind mit Mama wächst zu einer starken Pflanze.
    Ein Kind ohne Mama ist wie dünnes Gras.
    Bei meiner Mama zu sein ist eine Freude ohne Ende.
    Dhondup weint, als Dolker ihr kleines Lied zu Ende gesungen hat. Aber er tut so, als ob ihm ein Steinchen ins Auge gefallen wäre.
    Das war an jenem ersten Tag nach unserer Begegnung in den Bergen, als wir uns im Basislager ein paar Stunden Ruhe gönnten. In einer windstillen Ecke saßen unter einer großen Wolldecke zusammengekuschelt Tamding, Chime, Dolker, Little Pema und Dhondup. Sie plapperten, sangen, und wir spielten mit den Steinen Aupo …
    Mein kleiner Anfängerfilm ist mit vielen nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet worden. Doch da Dokumentationen meist spätabends über den Bildschirm laufen, wenn der Großteil Deutschlands bereits schläft, habe ich immer noch das Gefühl, nicht genügend Menschen vom Schicksal der tibetischen Kinder erzählt zu haben.
    »Wollen Sie selbst einmal Kinder haben?« wurde ich einmal in einem Zeitungsinterview gefragt.
    »Nein«, habe ich geantwortet. »Ich möchte später einmal mit meinen Patenkindern in einem großen Haus leben.«
    Genau in diesen Tagen bin ich schwanger geworden. Von Jörg. Obwohl wir eigentlich schon getrennt waren.
    Aber wir wollen es noch einmal gemeinsam versuchen.
    Unser Baby ist kugelrund. Dolker hatte mit ihrer Zeichnung voll ins Schwarze getroffen.
    Wir haben unseren Sohn Simon Jürgen genannt. Denn mein bester Freund Jürgen hat diese Welt ein paar Tage vor Simons Geburt für immer verlassen.
    Ich drücke die Reviewtaste an meinem Videorekorder und spule die Aufnahme zurück:
    Dhondup tut so, als ob ihm ein Steinchen ins Auge gefallen wäre, damit wir nicht merken, daß er weint.
    »Was hast du?« fragt Dolker.
    »Nichts«, sagt Dhondup, »meine Augen sind nur wund.«
    Nachdem ich Suja in der Nähe des Kinderdorfes ein Zimmer besorgt hatte, kümmerte er sich wie ein Vater um die sechs Kinder. Er half ihnen bei den Schulaufgaben. Er kaufte ihnen Sandalen, wenn die alten durchgelaufen waren, und zu Losar gab es neue Chubas für die Mädchen und Leuchtraketen für die Jungs. Er tröstete Dolker und Chime, als ihre Mutter wieder nicht zu Besuch kam. Manchmal mußte er streng sein mit Dhondup und Tamding, wenn sie aus Übermut Wasserbomben auf die Straße warfen, um die alten Amalas zu erschrecken. Doch als Dhondup mit einer schweren Darminfektion ins Krankenhaus mußte, besuchte er ihn jeden Tag, brachte Schokolade und die neuesten Chinesenwitze.
    Die Wochenenden verbringen die Kinder nun immer in Sujas
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