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Flucht über den Himalaya

Flucht über den Himalaya

Titel: Flucht über den Himalaya
Autoren: Maria Blumencron
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der ganze Großfamilien über die Himalaya-Pässe trieb. Für Erwachsene war es damals schon schwer, sich in einem überbevölkerten Entwicklungsland wie Indien eine Existenz aufzubauen. Und so wurden oft nur die Kinder in eine bessere Zukunft geschickt.
    Bereits in den frühen Sechzigerjahren erkannte der junge Dalai Lama die dringende Notwendigkeit, für die geflüchteten Kinder und Jugendlichen seiner Heimat Einrichtungen zu schaffen, wo sie leben und zur Schule gehen konnten. Er beauftragte seine ältere Schwester mit dieser schwierigen Aufgabe. Tsering Dolma verteilte die frisch eingetroffenen Mädchen und Buben zunächst auf leerstehende Bungalows und organisierte notdürftig ihre Betreuung und Ausbildung. Den ersten Winter überlebten viele Kinder nicht, denn es fehlte an Nahrungsmitteln, Decken und Kleidung. Doch allmählich nahm die Welt Anteil am Schicksal der tibetischen Flüchtlinge, und die ersten Hilfslieferungen erreichten Dharamsala. Als Tsering Dolma 1964 einem Krebsleiden erlag, übernahm Jetsun Pema, die jüngere Schwester des Dalai Lama, die Fürsorge für Hunderte von Flüchtlingskindern. Eine große Aufgabe für die damals erst Vierundzwanzigjährige. Doch Jetsun Pema wuchs mit den Anforderungen, die jedes neue Kind, das über den Himalaya kam, an sie stellte. ›Amala‹ wird sie heute respektvoll genannt – von den Tibetern in Tibet wie von denen, die im Exil unter ihrer Obhut aufgewachsen sind. Sie ist eine Art Übermutter für die fast 17 000 tibetischen Kinder und Jungendlichen, die in mittlerweile neun tibetischen SOS-Kinderdörfern aufwachsen.
    »Unsere Kinder haben geschrieben!« spreche ich auf Jörgs Mailbox, und kurze Zeit später sitzen wir uns im Café Schmitz gegenüber. Die Großen berichten das Übliche aus ihrem Schulalltag: über Noten und die Platzierung in ihrer Klasse, über Krankheiten und die neuesten Ereignisse im TCV.
    Von Dolker liegt diesmal eine Zeichnung bei. Wenn unsere Kleinste etwas Wichtiges zu sagen hat, ist es immer noch leichter für sie, sich in Bildern auszudrücken:
    Im Zentrum ihrer Zeichnung stehen Jörg mit seinen halblangen Haaren und ich in einem prachtvollen Prinzessinnenkleid. Zwischen uns beiden hängt an einer Waage ein kugelrundes Baby. Und an die untere Kante des Bildes malte Dolker – wie Orgelpfeifen aufgereiht – sich selbst und die fünf anderen tibetischen Kinder mit Luftballons in der Hand.
    Ich weiß, was Dolker uns mit dieser Zeichnung sagen will: »Auch wenn ihr beide ein Baby bekommt – vergeßt nie eure sechs Kinder in Indien!«
    »Wir sollten ihr schreiben, daß wir uns getrennt haben«, sage ich zu Jörg.
    »Besser nicht. Sie wäre sehr enttäuscht.«
    Daß ich enttäuscht bin, juckt ihn nicht, denke ich und rühre ganz viel Sahne in meinen Tee.
    »Und was schreibt Chime?« fragt Jörg.
    »Sie fragt, wann wir sie besuchen kommen.«
    Ein halbes Jahr nach unserem Abschied in Dharamsala ist es endlich soweit. Ich packe die englische Version des fertigen Filmes in den Rucksack, und Jürgen bringt mich mit seinem roten Golf zum Flughafen.
    Doch zunächst fliege ich nach Kathmandu, um Big Pema wiederzutreffen. Der einsame Cowboy ist nicht mehr alleine. Dolma heißt die schöne Frau an seiner Seite.
    »Ich möchte dir erzählen, wie es wirklich war, mit meiner Mutter«, sagt Pema an unserem letzten gemeinsamen Abend. »Ich bin nicht heimlich von zu Hause abgehauen. Ich habe meiner Amala gesagt, daß ich nach Indien gehen werde. Doch sie war dagegen. Ich war ihr Jüngster, ihr kleiner Prinz. Als ich dann meine Sachen packte, weinte sie und klammerte sich an mir fest. Auf ihren Knien hat meine Mutter mich angefleht, sie nicht zu verlassen. Ich bin trotzdem gegangen. Ich dachte, mein Glück liegt im Exil. Deshalb habe ich dir damals in den Bergen gesagt, ich hätte ein Herz aus Stein.«
    Seine Eltern kann Pema nur noch als illegaler Grenzgänger besuchen. Die Mitarbeit an unserem Film macht dies nun noch viel gefährlicher für ihn. Meine Stimmung ist gedrückt, als ich mich von ihm verabschiede. Ursache und Wirkung – vielleicht kann Pema wegen meines Filmes seine Eltern nie mehr wiedersehen.
    »Dein Film ist toll, Zazie-la«, sagt Pema, nachdem wir uns das Video gemeinsam angeschaut haben: »Deshalb sollten wir nicht bedauern, was wir getan haben. Die Tibeter sind ein Sechs-Millionen-Volk, und unsere Stärke gegenüber dem riesigen China ist lächerlich klein! Aber wir haben den Dalai Lama, und der zählt zu den größten
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