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Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman

Titel: Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
Autoren: Patricia Cornwell
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befand. Es starrte mich an wie ein winziges, leeres Auge. Marino schnippte seine Zigarettenkippe in hohem Bogen ins Gras und kramte in einer Tasche seiner kobaltblauen Hose herum. Er hatte sein Jackett ausgezogen, und sein großer Bauch hing über den Gürtel. Sein kurzärmeliges, weißes Hemd war um das Schulterhalfter herum zerknittert, und sein Kragen stand offen.
    An dem Schlüssel, den er aus seiner Tasche zog, hing ein gelbes Beweismittelzettelchen, und während ich beobachtete, wie er das Sicherheitsschloss neuester Bauart öffnete, verblüffte mich wieder einmal die Größe seiner Hände. Sie waren zäh und wettergebräunt und erinnerten mich an Baseballhandschuhe.
    Er hätte niemals Musiker oder Zahnarzt werden können. Trotz seiner schütter werdenden grauen Haare und eines Gesichts, das so abgetragen aussah wie seine Anzüge, wirkte er immer noch gewaltig genug, um die meisten Leute einzuschüchtern. Große, bullige Polizisten wie er müssen sich selten herumprügeln. Die Schlägertypen auf der Straße schauen ihn einmal an und ziehen den Schwanz ein.
    Wir standen in einem Rechteck aus Sonnenlicht in der Eingangshalle und streiften uns Baumwollhandschuhe über die Finger. Das Haus roch muffig und verstaubt, so wie Häuser riechen, die eine Zeitlang unbewohnt waren. Obwohl der Spurensicherungstrupp des Richmond Police Department den ganzen Tatort gründlichst unter die Lupe genommen hatte, war nichts verändert worden. Das Haus befand sich, Marino zufolge, noch in genau demselben Zustand wie zwei Nächte zuvor, als man Beryls Leiche hier gefunden hatte. Er schloss die Tür und knipste das Licht an.
    »Sie können deutlich sehen«, hallte seine Stimme, »dass sie den Kerl hereingelassen haben muss. Keine Spur eines gewaltsamen Eindringens, und dabei hat dieser Schuppen eine Drei-Sterne-Alarmanlage.« Er lenkte meine Aufmerksamkeit auf die Kontrolltafel neben der Tür und fügte hinzu: »Im Moment ist sie ausgeschaltet. Aber sie funktionierte, als wir hier eintrafen. Heulte wie ein Dutzend Feuerwehrsirenen, deshalb fanden wir sie überhaupt so schnell.«
    Er erinnerte mich daran, dass der Mord bei der Polizei ursprünglich als »akustischer Alarm« registriert worden war. Die Anlage hatte schon dreißig Minuten ununterbrochen geheult, bis schließlich kurz nach elf Uhr abends einer von Beryls Nachbarn die Notrufnummer der Polizei wählte. Als eine Streife der Sache auf den Grund gehen wollte, sah der Beamte, dass die Vordertür offen stand. Kurz danach forderte er über Funk Verstärkung an.
    Das Wohnzimmer war ein Trümmerhaufen. Jemand hatte den gläsernen Couchtisch umgeworfen, und Zeitschriften, ein Kristallaschenbecher, einige Art-déco-Schalen und eine Blumenvase lagen über den indischen Baumwollteppich verstreut. Ein Ohrensesselaus blassblauem Leder lag umgestürzt auf der Seite, daneben ein Kissen des dazu passenden mehrteiligen Sofas. An der weißgetünchten Wand links von einer zur Diele führenden Tür klebten dunkle Spritzer getrockneten Bluts.
    »Arbeitet die Alarmanlage mit Zeitverzögerung?«, fragte ich.
    »Aber ja. Man öffnet die Tür, und die Anlage summt etwa fünfzehn Sekunden lang, so dass man genügend Zeit hat, um einen Code einzutippen, bevor sie losgeht.«
    »Dann muss sie die Tür geöffnet, die Alarmanlage abgeschaltet, den Täter hereingelassen und die Anlage wieder eingeschaltet haben, während er noch da war. Sonst wäre sie später, als er das Haus verließ, nicht losgegangen. Interessant.«
    »Ja«, antwortete Marino, »verdammt interessant.«
    Wir standen im Wohnzimmer neben dem umgeworfenen Couchtisch, der über und über mit schwarzem Fingerabdruckpuder bestäubt war. Bei den Zeitschriften auf dem Boden handelte es sich um Nachrichtenmagazine und literarische Publikationen, alle einige Monate alt.
    »Haben Sie auch irgendwelche aktuellen Tageszeitungen oder Magazine gefunden?«, fragte ich. »Wenn sie sich irgendwo eine Lokalzeitung gekauft hat, könnte das vielleicht wichtig sein. Wir sollten nachprüfen, wo sie hinging, nachdem sie das Flugzeug verlassen hatte.«
    Ich sah, wie er die Zähne aufeinanderbiss. Marino wurde sauer, wenn er glaubte, ich wolle ihm erzählen, wie er seinen Job zu erledigen habe.
    Er sagte: »Es waren ein paar Sachen oben im Schlafzimmer bei ihrer Aktentasche und ihren Koffern. Ein Herald aus Miami und ein Blättchen, das Keynoter heißt und hauptsächlich aus Immobilienanzeigen für die Key-Inseln besteht. Vielleicht hat sie daran gedacht, dort
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