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Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman

Titel: Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
Autoren: Patricia Cornwell
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Tier, und wenn der Regen an die Scheibe trommelt, klingt es, als ob eine dunkle Armee einmarschiert wäre und nun Key West belagerte.
    Bald muss ich fort von hier. Ich werde diese Insel vermissen. Ich werde P. J. und Walt vermissen. Bei ihnen habe ich mich beschützt, sicher und umsorgt gefühlt. Ich weiß nicht, was ich tun werde, wenn ich zurück nach Richmond komme. Vielleicht sollte ich sofort umziehen, aber ich weiß nicht, wohin.
    Beryl

1
    Ich legte die Briefe aus Key West in den Aktendeckel aus braunem Papier zurück, packte ein Paar weiße Baumwollhandschuhe in meine schwarze Arzttasche und fuhr mit dem Aufzug ein Stockwerk hinunter zur Leichenhalle. Der gekachelte Gang war feucht, der Autopsieraum verlassen und abgeschlossen. Schräg gegenüber dem Aufzug lag der Kühlraum aus Edelstahl, und als ich seine massive Tür öffnete, begrüßte mich der vertraute Schwall kalter, verdorben riechender Luft. Ich musste nicht erst die Zettel an den Zehen überprüfen. Die Rollbahre, die ich suchte, erkannte ich ohne Mühe an dem schlanken Fuß, der unter einem weißen Laken hervorschaute. Ich kannte jeden Zoll von Beryl Madison.
    Rauchblaue Augen starrten mich glanzlos aus halbgeöffneten Lidern an, das Gesicht war schlaff und von bleichen, offenen Schnitten entstellt, die meisten davon befanden sich auf der linken Seite. Ihr Hals klaffte bis zur Wirbelsäule auf, alle Muskeln unterhalb des Zungenbeins waren durchtrennt worden. Neun eng beieinanderliegende Stichwunden auf dem linken Thorax und Busen standen offen wie große, rote Knopflöcher und lagen fast genau untereinander. Sie waren ihr in rascher Folge mit so brutaler Kraft beigefügt worden, dass auf ihrer Haut noch die Abdrücke des Griffes zu sehen waren. Die Schnitte an ihren Unterarmen und Händen maßen zwischen acht Millimeter und elf Zentimeter in der Länge. Zusammen mit den zwei Wunden an ihrem Rücken, die Stichwunden und ihre durchschnittene Kehle nicht hinzugerechnet, waren ihr siebenundzwanzig Schnittverletzungen zugefügt worden, während sie versucht hatte, die Angriffe einer langen scharfen Klinge abzuwehren.
    Ich brauchte keine Fotografien oder Körperdiagramme. Wenn ich meine Augen schloss, konnte ich Beryl Madisons Gesicht, die ihrem Körper zugefügte Gewalt in allen abscheulichen Einzelheiten sehen. Ihre linke Lunge wies vier Einstiche auf. Ihre Halsschlagadernwaren beinahe vollständig durchschnitten, Aortabogen, Lungenarterie, Herz und Herzbeutel verletzt worden. Sie war praktisch schon tot gewesen, als der Verrückte sie auch noch fast enthauptet hatte.
    Ich versuchte, mir einen Reim auf die Sache zu machen. Jemand hatte gedroht, sie zu ermorden. Sie floh nach Key West. War wie von Sinnen vor Angst. Sie wollte nicht sterben. Und trotzdem passierte es noch in derselben Nacht, in der sie nach Richmond zurückgekehrt war.
    Warum hast du ihn ins Haus gelassen? Warum, um Himmels willen, hast du das getan?
    Ich zog das Laken wieder gerade und schob die Rollbahre zurück an die Rückwand des Kühlschranks zu den anderen Leichen. Morgen um diese Zeit würde ihr Körper verbrannt und ihre Asche auf dem Weg nach Kalifornien sein. Beryl Madison wäre in diesem Monat vierunddreißig Jahre alt geworden. Sie hatte keine lebenden Verwandten, niemanden auf der ganzen Welt, wie es schien, außer einer Halbschwester in Fresno. Die schwere Tür schloss sich mit einem schmatzenden Geräusch.
    Der Teer auf dem Parkplatz hinter dem OCME, dem Büro des Chief Medical Examiner, lag warm und fest unter meinen Füßen, und ich roch die Kreosotdünste, die die für diese Jahreszeit ungewöhnlich warme Sonne von den Eisenbahnviadukten in der Nähe aufsteigen ließ. Es war der 31. Oktober. Halloween.
    Die Tür zur Rampe stand weit offen, und einer meiner Assistenten spritzte mit einem Schlauch den Beton ab. Spielerisch formte er aus dem Wasserstrahl einen Bogen und ließ ihn so nahe an mir herunterprasseln, dass ich den Sprühnebel um meine Knöchel spürte.
    »Hey, Dr. Scarpetta, seit wann halten Sie sich an den Achtstundentag?«
    Es war kurz nach halb fünf. Ich verließ das Büro selten vor sechs.
    »Soll ich Sie irgendwohin mitnehmen?«, fügte er hinzu. »Ich werde abgeholt, danke«, antwortete ich.
    Ich bin in Miami geboren. Der Teil der Welt, in dem sich Beryl Madison den Sommer über versteckt hatte, war mir nicht fremd. Wenn ich meine Augen schloss, konnte ich die Farben von Key West sehen. Ich sah strahlendes Grün und Blau und Sonnenuntergänge, die so
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