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Flucht aus Katmandu

Titel: Flucht aus Katmandu
Autoren: Kim Stanley Robinson
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Überraschung zu künden schien, wie bei einer Katze, die ich einmal gehabt hatte.
    Ich bin überzeugt, daß er in diesem Augenblick wirklich überrascht war. Wir beide standen still wie Bäume und schwankten leicht im Wind unserer Begegnung – aber sonst rührte sich keiner. Ich atmete nicht einmal. Was sollte ich tun? Ich stellte fest, daß er einen kleinen geglätteten Stock in der Hand hielt und im Fell seines Halses einige kleine Gegenstände an einer Schnur hingen. Sein Gesicht, Werkzeug, Schmuck: ein Teil von mir, der Teil, der nicht schockiert war, dachte (ich nehme an, im Grund meines Herzens bin ich noch Zoologe): Sie sind nicht nur Primaten, sie sind Hominide.
    Wie um diese Vorstellung zu bestätigen, sprach er zu mir. Er summte kurz; knarrte; schnüffelte ein paar Mal; zog die Lippen zurück (und enthüllte dabei einen gewaltigen Eckzahn) und pfiff ganz leise. In seinen Augen lag eine Frage, so ruhig, sanft und intelligent vorgebracht, daß ich kaum glauben konnte, sie nicht verstehen und beantworten zu können.
    Ich hob ganz langsam die Hand und wollte »Hallo!« sagen. Dumm, ich weiß, aber was sagt man, wenn man einen Yeti trifft? Auf jeden Fall kam nichts bis auf ein ersticktes »Harn« dabei heraus.
    Er neigte wißbegierig den Kopf und wiederholte das Geräusch. »Harn. Harn. Harn.«
    Plötzlich riß er den Kopf hoch und sah an mir vorbei, bachaufwärts. Er öffnete weit den Mund und stand lauschend da. Er starrte mich an und versuchte mich einzuschätzen. (Ich schwöre, ich weiß genau, daß dem so war!)
    Bachaufwärts krachten Äste, und er nahm mich am Arm, und hopp, waren wir am Rand des Baches und im Wald. Hals über Kopf durch die Bäume, und wir lagen hinter einem umgestürzten Baum flach auf dem Boden, nebeneinander auf feuchtem, nachgiebigem Moos. Mein Arm tat weh.
    Phil Adrakian erschien unten im Bachbett; er wirkte ziemlich mitgenommen. Er hatte sich im Unterholz verfangen und an mehreren Stellen das Nylon seiner Jacke aufgerissen, so daß ihm beim Gehen weiße Flocken hinterherwehten. Und er war irgendwo in Schlamm gefallen. Der Yeti kniff die Augen zusammen, als er ihn beobachtete, und wollte von ihm eindeutig nicht gesehen werden.
    »Nathan!« rief Phil. »Naaaa-thannnn!« Er war anscheinend noch immer voller Tatkraft. »Ich habe einen gesehen! Nathan, wo bist du, verdammt!« Er ging rufend bachabwärts, und der Yeti und ich blieben liegen, bis er an uns vorbeigegangen war.
    Ich weiß nicht, ob ich je einen zufriedeneren Augenblick erlebt habe.
    Als er um eine Biegung des Baches verschwunden war, setzte der Yeti sich auf und lehnte sich wie ein müder Lagerarbeiter gegen den Stamm. Die Sonne ging auf, und er grunzte, pfiff, atmete langsam und beobachtete mich. Was dachte er? In diesem Augenblick hatte ich nicht die geringste Ahnung. Er machte mir sogar angst; ich konnte mir nicht vorstellen, was jetzt geschehen würde.
    Er zerrte mit den Händen, die länger und schmaler als menschliche waren, an meiner Kleidung. Er griff nach seinem Halsband und zog es über den Kopf. Große Muscheln hingen an einer Schnur aus geflochtenem Hanf. Es waren Fossilien, die Kammuscheln ähnelten – Überbleibsel der Tage, da sich der Himalaja unter Wasser befunden hatte. Was fand der Yeti an ihnen? Ich konnte es nicht sagen. Aber er schätzte sie anscheinend, und sie waren Teil einer Kultur.
    Lange Zeit über sah er sein Halsband nur an. Dann legte er es mir sehr vorsichtig über den Kopf, um meinen Hals. Meine Haut brannte schier, so heftig errötete ich, ich sah nur noch verschwommen durch Tränen, meine Kehle schmerzte – ich kam mir vor, als sei Gott hinter einem Baum hervorgetreten und habe mich gesegnet, völlig grundlos, Du verstehst? Ich hatte es nicht verdient.
    Ohne weitere Umstände sprang er auf und ging krummbeinig davon, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Ich stand allein im Morgenlicht, und mir war nur das Halsband geblieben, das schwer auf meiner Brust hing. Und ein wunder Arm. Also war es passiert, ich hatte es nicht geträumt. Ich war gesegnet worden.
    Nachdem ich wieder einigermaßen zu Sinnen gekommen war, marschierte ich bachabwärts und zum Lager zurück. Als ich dort ankam, steckte das Halsband tief in einer der gefütterten Taschen meiner Jacke, und ich hatte mir eine Geschichte zurechtgelegt.
    Phil war bereits da und redete auf die ganze Gruppe ein. »Da bist du ja!« rief er. »Wo, zum Teufel, warst du? Ich dachte schon, sie hätten dich geschnappt!«
    »Ich habe nach dir
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