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Fliehe weit und schnell

Fliehe weit und schnell

Titel: Fliehe weit und schnell
Autoren: Fred Vargas
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Danglard, der zum Hauptmann befördert worden war, mitzunehmen.
    An diesem Ort würde Danglards präzises Denken genau wie Adamsbergs intuitives Umherschweifen nicht mehr um eingeschlagene Scheiben und Handtaschenraube kreisen. Sie würden sich auf ein einziges Ziel konzentrieren: die Aufklärung von Kapitalverbrechen. Nicht die kleinste Scheibe mehr, um einen vom Alptraum der mordenden Menschheit abzulenken. Nicht die kleinste Handtasche mit Schlüsseln, Adreßbuch und Liebesbrief, die einen die belebende Luft nebensächlicher Delikte atmen ließ, worauf man dann die junge Frau mit einem sauberen Taschentuch zur Tür geleitete.
    Nein. Kapitalverbrechen. Delikte am Menschen.
    Diese schneidende Definition ihres neuen Einsatzgebietes verletzte wie eine Rasierklinge. Sehr gut, er hatte es so gewollt und außerdem etwa dreißig Kriminalfälle hinter sich, die er unter reichlicher Zuhilfenahme von Träumereien, Spaziergängen und zur Oberfläche aufsteigender Algen entwirrt hatte. Man hatte ihn hier an die Front der Mörder plaziert, auf diesen Weg des Schreckens, auf dem er sich entgegen aller Erwartung als teuflisch gut erwies - ›teuflisch‹ war ein von Danglard gebrauchter Ausdruck, um die Unwegsamkeit der geistigen Pfade Adamsbergs zu beschreiben.
    Da waren sie nun, alle beide, an dieser Front, mit sechsundzwanzig Mitarbeitern.
    »Ich frage mich«, fuhr Adamsberg fort, während er langsam mit der Hand über den feuchten Putz fuhr, »ob mit uns dasselbe passieren kann wie mit den Felsen am Ufer des Meeres.«
    »Das heißt?« fragte Danglard ein wenig ungeduldig.
    Adamsberg hatte schon immer langsam geredet und sich viel Zeit genommen, Wichtiges wie auch Lächerliches zu formulieren, wobei er unterwegs das Ziel bisweilen aus den Augen verlor, und Danglard ertrug diese Vorgehensweise nur schwer.
    »Nun, sagen wir, diese Felsen sind nicht aus einem Stück. Sagen wir, sie bestehen aus hartem Kalkstein und sanftem Kalkstein.«
    »Sanften Kalkstein gibt es in der Geologie nicht.«
    »Schnurzegal, Danglard. Es gibt sanfte, und es gibt harte Stücke, wie in jeder Lebensform, wie in mir und in Ihnen. So sind diese Felsen. Und in dem Maße, wie das Meer dagegen brandet und schlägt, beginnen die sanften Stücke zu schmelzen.«
    »›Schmelzen‹ ist nicht das richtige Wort.«
    »Schnurzegal, Danglard. Diese Stücke verschwinden. Die harten Teile bilden allmählich einen Vorsprung. Und je mehr Zeit vergeht und je mehr das Meer daranstößt, desto stärker entschwindet das Schwache in alle Richtungen. Am Ende seines Menschenlebens besteht der Fels nur noch aus Zacken, Zähnen, aus Kalkkiefer, der bereit ist zuzubeißen. Wo vorher das Sanfte war, befinden sich jetzt Hohlräume, Leerstellen, Freiräume.«
    »Und?« fragte Danglard.
    »Ich frage mich, ob Bullen und alle anderen Menschen, die der Brandung des Lebens ausgesetzt sind, nicht derselben Erosion unterliegen. Verschwinden der weichen Teile, Widerstand der hartnäckigen Teile, Desensibilisierung, Verhärtung. Im Grunde genommen ein wahrer Verfall.«
    »Fragen Sie sich, ob Sie den Weg dieses Kalkkiefers gehen?«
    »Ja. Ob ich nicht zum Bullen werde.«
    Danglard dachte einen Augenblick nach.
    »Was Ihren persönlichen Felsen angeht, so denke ich, daß die Erosion nicht normal verläuft. Sagen wir, bei Ihnen ist das Harte weich und das Weiche hart. Da ist das Ergebnis zwangsläufig ein völlig anderes.«
    »Was ändert das?«
    »Alles. Resistenz der weichen Teile bedeutet verkehrte Welt.«
    Danglard dachte über seinen eigenen Fall nach, während er ein Bündel Papiere in eines der Hängeregister steckte.
    »Und was käme heraus«, fuhr er dann fort, »wenn ein Felsen vollständig aus weichem Kalk bestünde? Und Bulle wäre?«
    »Am Ende würde er auf die Größe einer Murmel schrumpfen und schließlich mit Mann und Maus untergehen.«
    »Das ist ja ermutigend.«
    »Aber ich glaube nicht, daß in der Natur solche Felsen vorkommen. Die außerdem noch Bullen sind.«
    »Das wäre zu hoffen«, sagte Danglard.
     
    Die junge Frau vor der Tür des Kommissariats zögerte. Also, auf dem glänzenden Schild, das am Türflügel angebracht war, stand nicht ›Kommissariat‹, sondern ›Polizeipräfektur – Strafverfolgungsbrigade‹ in lackierten Buchstaben. Es war das einzig Saubere hier. Das Gebäude war alt und schwarz und die Scheiben dreckig. Vier Arbeiter waren damit beschäftigt, unter Höllenlärm um die Fenster herum Löcher in den Stein zu bohren und Gitterstäbe anzubringen.
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