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Fleischmarkt

Fleischmarkt

Titel: Fleischmarkt
Autoren: Laurie Penny
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Bulimie zu leiden, neben den Kolumnen darüber, was Madonna heute nicht zum Frühstück gegessen hat. Die Medien haben die Anorexie und die Bulimie zu Krankheiten der Zeit gemacht – grausig und abscheulich cool, in den Augen der Öffentlichkeit Beweise des vermeintlichen Verletztseins und Scheiterns der erfolgreichen Frauen.
    Die Sorge um die geistige und körperliche Gesundheit der Jugend von morgen hat jedoch eindeutig keine Priorität. Neuere Versuche der internationalen Medien, die Öffentlichkeit für die Gefährlichkeit von Essstörungen zu sensibilisieren, wirkten nicht wie eine echte Kampagne, sondern eher wie eine verrückte und blutrünstige Mischung aus einer Dokumentation über eine Hungerkatastrophe und einem Pornofilm. Auf den Werbeplakaten für die 2008 bei ITV gestartete Dokumentation
Leben mit Größe Null
stützte sich ein Model mit stockdürren Gliedern mit einem Bein auf einen Haufen Waagen ab. Das Mädchen trug nichts außer spärlicher Unterwäsche und blickte mit aufgeworfenen Lippen provozierend in die Kamera, um eine sexuelle Attraktivität nachzuäffen, die ihr ausgemergelter Körper biochemisch sicher nicht mehr in der Lage war herzustellen. Ein Maßband war um ihren Rumpf gewickelt. Das ist keine »Sensibilisierung«, sondern Götzendienst.
    Die ›Größe Null‹-Frau ist eine kapitalistische Fantasie über klassifizierte Weiblichkeit, eine Medienfiktion, die in den verschlungenen Hirnwindungen der Herausgeber und Redakteure von Modezeitschriften und Boulevardzeitungen ausgebrütet wird. Und sie ist eine gefährliche Fiktion. Es ist eine Fiktion, die überkommene Geschlechterstereotypien belebt und in den kannibalistischen Ethos der Modeindustrie zurückwirkt. Es ist eine Fiktion, die auf der entwürdigenden Vorstellung basiert, dass Frauen dumm, nicht ernst zu nehmen und leicht zu beeindrucken sind. Und es ist eine Fiktion, die das wahre Ausmaß der Essstörungen und ihre gravierenden Wirkungen ausblendet, die das Leben von Frauen auf der ganzen Welt zerstören.
    Die ›Größe-Null-Debatte‹ sorgte im August 2006 für Aufruhr, als zwei südamerikanische Models, Luisel Ramos und Ana Carolina Reston, an den Folgen von Fastendiäten starben, die ihr Gewicht extrem niedrig halten sollten. Die amerikanische Damenkleidergröße 0 entspricht der englischen Größe 4 und der europäischen Größe 32 und passt zu einem Body-Mass-Index, der typisch für eine stark untergewichtige junge Frau ist. Als Antwort auf diese tragischen Fälle hat man 2006 bei der in Madrid stattfindenden Fashion Week alle Models mit einem Body-Mass-Index unter 18 vom Laufsteg verbannt. Viele Modehäuser, Prominente und Designer sprachen sich dagegen aus, dass in der Branche Models beschäftigt werden, die durch ihr Untergewicht gesundheitlich beeinträchtigt sind.
    Diese Geschichte enthielt alle klassischen Zutaten eines Knüllers: den Glamour-Effekt der Top-Mode, den nervenkitzelnden Hauch institutioneller Konspiration und natürlich die tragischen, da viel zu frühen Tode der wunderbaren jungen Frauen. Passenderweise schrie die Geschichte geradezu danach, mit Schnappschüssen von stockdürren und halbnackten Teenagern illustriert zu werden, sodass sie zu einem echten Hingucker wurde.
    Der ›Größe-Null-Mythos‹ ist für die große Mehrheit der Essgestörten ziemlich irrelevant, da sie keine Laufsteg-Models oder Mode-Erbinnen sind. Dennoch nimmt die Anzahl der an Essstörungen leidenden Frauen und Männer – bei diesen weit weniger sichtbar – weiterhin zu. Die Charity Beat (auf Essstörungen spezialisierte nichtstaatliche Gesundheitseinrichtung) schätzt, dass es etwa 165000 Personen mit ernsthaften Essstörungen allein in Großbritannien gibt und dass zu dieser Zahl die Millionen Menschen kommen, die streng genommen nicht an einer Essstörung leiden, deren Leben aber dennoch permanent von Scham, Selbstverleugnung und Diäten mit Jojo-Effekt geprägt ist. Dazu kommen auch die vielen tausend Frauen mittleren Alters, die jahrzehntelang hungern, weil der Imperativ, ihre wunderbar älter werdenden Körper zu hassen, immer lauter wurde. Und auch die vielen Tausend Mädchen, die lieber ihre Lebenszeit um Jahre verkürzen und einen schmerzhaften Tod durch Ersticken riskieren als die Gefahr, zuzunehmen, wenn sie das Rauchen aufgeben. Dressiert von der umfassenden Propaganda der Mode-, Diät-, Schönheits-, Musik-, Medien- und Pornoindustrie, haben die Frauen im frühen 21. Jahrhundert gelernt, ihr eigenes Fleisch zu
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