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Fleischmarkt

Fleischmarkt

Titel: Fleischmarkt
Autoren: Laurie Penny
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die gesehen hat, wie die Freiheiten immer mehr wurden, zunehmend mehr Frauen davon überzeugt, dass sie abnehmen müssen, weniger Raum einnehmen dürfen und sich selbst am besten verschwinden lassen sollten.
    Der Triumph des freiwilligen Hungerns ist die größte Niederlage des Feminismus in der westlichen Welt. Alle Aspekte des Phänomens sind geschlechtsspezifisch – von den täglichen Feldzügen des Selbsthasses, die 75% aller Frauen unter dem Deckmantel einer Diät gegen sich selbst führen, bis zu den Tausenden von Frauen und Männern weltweit, die sich tatsächlich mitten im Überfluss zu Tode hungern. Der unerträgliche, widersprüchliche Druck der Geschlechterrollen lastet besonders schwer auf Frauen und queeren, homo- und bisexuellen Männern und Frauen und ist statistisch dafür verantwortlich, dass etwa 25 % aller Frauen und 50 % aller Männer mit Essstörungen nicht heterosexuell sind. 13 Die Erklärung, Essstörungen seien ein Nebenprodukt des Starkults, wird von der grausamen und radikalen Komplexität der Denkweise Magersüchtiger Lügen gestraft. Jo, heute 23, wurde mit 16 anorektisch: »Meine Mutter dachte, ich wolle so dünn sein, um einen Freund zu finden. Ha! Tatsächlich war der Hauptgrund hinter meinem Wunsch, so dünn zu sein, dass ich nicht aussehen wollte wie ein echtes Mädchen. Ich wollte nicht, dass mir Männer auf der Straße hinterherschauen; ich hasste meine Brüste und meine weichen, runden weiblichen Kurven, weil sie sich anfühlten und noch immer anfühlen, als ob sie nicht zu mir gehören. Die Anorexie…kommt von einem Ich, das mich so asexuell wie möglich haben möchte.«
    Traditionellerweise wird behauptet, dass Frauen alles tun, um gut auszusehen und einen Mann zu bekommen, einschließlich sich selbst zu Tode hungern – aber der Gedanke, dass Essstörungen ausschließlich eine Folge des Schönheitskultes sind, ist unredlich und für die Betroffenen erniedrigend. Der Schmerz ist körperlich, politisch und ebenso eine Reaktion gegen die aufdringliche Wirkung des Schönheitsfaschismus wie eine Unterwerfung unter die Verdinglichung. Auch Hannah, eine äußerst kluge 22-jährige Studentin der Wirtschaftswissenschaften in Cambridge, hat nicht gehungert, weil sie schön sein wollte: »Anorexie hat nichts damit zu tun, dass man schön sein will. Tatsächlich wusste ich, dass ich mit weniger Gewicht eher schlechter aussah. Ich wollte vielmehr abstoßend und hässlich aussehen. Ich wollte, dass mein Herz anfängt zu stottern und stehen bleibt und dass meine Knochen ganz dünn werden, dass meine Organe mich im Stich lassen. Wenn ich einen Herzanfall gehabt hätte durch das Hungern, dann hätte das vielleicht nicht wirklich als Selbstmord gegolten.«
    In der grausam verqueren Logik der Essstörungen gibt es paradoxerweise etwas sehr Feministisches – sie sind ein verzweifelter und psychologisch tödlicher Ersatz für die persönlichen und politischen Freiheiten, die wir noch nicht erreicht haben. Frauen und Mädchen, die ihrer eigenen Autonomie beraubt wurden, finden ein gewisses Maß an Autonomie in der physischen und psychologischen Selbstzerstörung durch das Hungern: Rebellion durch Selbst-Opferung, durch Übernahme der gesellschaftlichen Ideale der Dünnheit, Schönheit und Selbstverleugnung, bis zum logischen Extrem. Hunderttausende von Frauen, wie schon beschrieben, zerstören sich in der Folge dieses Pyrrhus-Sieges selbst. Und die westlichen Gesellschaften, die einen tiefen Abscheu vor dem weiblichen Fleisch hegen, applaudieren ihnen dafür.

Die heiligen hungernden Schwestern
    1991 beschrieb Naomi Wolf in
Der Mythos der Schönheit
, wie die epidemische Ausbreitung der Essstörungen unter den Frauen der westlichen Welt von den Medien und den Regierungen ignoriert wird. Sie interpretiert dieses Wegsehen als Beweis für die sexistischen Prioritäten der Gesundheitssysteme und -strategen in der ganzen Welt. Aber das ist nicht länger der Fall.
    Zwei Jahrzehnte später ist dieselbe Kultur mit Filmen, Büchern, Dokumentationen, Spielen und endlosen quälenden Zeitungsartikeln überflutet, die behaupten, die Wahrheit über Essstörungen zu enthüllen – vor allem über Anorexie, die glamouröseste und exotischste Schwester in der giftigen Familie der todbringenden geschlechtsspezifischen Störungen. Man kann jedes beliebige Magazin aufschlagen oder irgendein soziales Netzwerk im Internet besuchen, und man wird Spekulationen darüber finden, welcher Star gerade verdächtigt wird, an
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