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Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman

Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman

Titel: Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
Autoren: Anne Perry
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die Menschen drangsaliert und erniedrigt hat! Ja, das lohnt es!«
    Narraway richtete sich auf und löste sich von der Wand.
    »Mr Welling. Sie nehmen sich Rechte heraus, die Ihnen nicht zustehen, so, als wären Sie der Richter, die Geschworenen und der Henker in einer Person.«
    »Dann unternehmen Sie doch etwas!«, schrie ihn Welling an. »Jemand muss es schließlich tun!«
    Ohne auf ihn zu achten, wandte sich Narraway Pitt zu. »Ich werde jetzt Lord Landsborough vom Tod seines Sohnes in Kenntnis setzen. Er muss die Leiche identifizieren.« Seiner ruhigen Stimme war die Anspannung kaum anzumerken. »Gehen Sie
noch einmal in die Long Spoon Lane, und sehen Sie sich alles gründlich an. Ich möchte wissen, wer Magnus Landsborough auf dem Gewissen hat und möglichst auch den Grund für die Tat. Dieser Mord scheint mir völlig unverständlich. Allerdings nehme ich an, dass Anarchie ihrem Wesen nach unverständlich ist.«
    »Sie haben ihn umgebracht!«, stieß Welling hervor. Jetzt liefen ihm Tränen über das bleiche Gesicht. »Weil er unser Anführer war. Aber wenn Sie einen von uns niedermetzeln, steht der Nächste auf und nimmt seine Stelle ein – können Sie das nicht begreifen? Und zwar immer wieder, so oft es nötig ist. Sie können nicht alle umbringen. Wer würde dann die Arbeit tun? Über wen würden Sie herrschen?« Seine Stimme zitterte vor Leidenschaft und Spott. »Es kann keine Regierung geben, wenn nicht Leute da sind, die Holz hacken und Wasser holen, Menschen, die Befehle entgegennehmen und tun, was man ihnen sagt.«
    Ohne ihn anzusehen, sagte Narraway: »Ich würde Mr Welling gern nachweisen können, dass einer seiner eigenen Leute für den Tod ihres Anführers verantwortlich ist.« Und er fügte hinzu: »Wir erschießen niemanden, den wir aus dem Weg haben wollen – solche Leute werden bei uns gehenkt.« Dann wandte er sich um und verließ den Raum. Pitt folgte ihm.
    Welling sah ihnen nach, in seinen Augen brannten heiße Tränen der Hilflosigkeit.

    Da Narraway zuvor noch Auskünfte einholen musste, konnte er erst um die Mitte des Nachmittags die Stufen des Athenaeum-Clubs in 107 Pall Mall emporgehen, um mit Lord Landsborough zu sprechen. Selbstverständlich war Narraway dort Mitglied, sonst hätte man ihm den Zutritt verwehrt – Staatsschutz hin oder her.
    »Sehr wohl, Sir«, sagte der Klubdiener mit so gedämpfter Stimme, dass seine Worte kaum zu hören waren. »Soll ich Seine Lordschaft von Ihrer Anwesenheit unterrichten?«
    »Ich brauche einen Raum, wo wir ungestört sind«, wies ihn Narraway an. »Bedauerlicherweise habe ich eine äußerst unangenehme
Nachricht für Seine Lordschaft. Vielleicht sorgen Sie dafür, dass ein trinkbarer Kognak und Gläser auf dem Tisch stehen.«
    »Sehr wohl, Sir. Tut mir sehr Leid, Sir.« Der Klubdiener führte ihn durch den stillen Korridor in einen Raum. Zwei Minuten später brachte ein weiterer Diener ein silbernes Tablett mit einer Flasche Napoléon und zwei kunstvoll gravierten Kognakschwenkern.
    Narraway stand in der Mitte des Aubusson-Teppichs und versuchte seine Gedanken zu sammeln. Hier befand er sich im Herzen des zivilisiertesten Ortes von ganz Europa: in einem Herrenklub, in dem man in allen Lebenslagen Wert auf untadelige Manieren legte und niemand je die Stimme erhob. Wer sich dort über Kunst und Philosophie, Sport oder die Regierungen der Länder der Erde unterhalten wollte, über Forschungsreisen durch das britische Weltreich oder jenseits von dessen Grenzen, über die Weltgeschichte, durfte sich darauf verlassen, geistvolle und kluge Gesprächspartner vorzufinden, die ihre Empfindungen im Zaum zu halten verstanden.
    Und jetzt kam er hierher, um einem Mann zu sagen, dass sein Sohn ein knappes Dutzend Kilometer entfernt bei einem Feuergefecht der Polizei mit Anarchisten ums Leben gekommen war.
    Unter Umständen wäre Pitt der bessere Mann gewesen, hätte für die Situation mehr Fingerspitzengefühl gehabt. Er war dergleichen gewöhnt. Möglicherweise verfügte er über Worte, mit denen sich die Sache zumindest in würdiger Weise darstellen ließ. Er hatte selbst Kinder. Seine Vorstellungskraft würde seinem Mitleid beredten Ausdruck verleihen. Narraway konnte sich nur darum bemühen. Er hatte keine Frau, keine Kinder und nicht einmal jüngere Geschwister. Durch seine Arbeit war er noch gründlicher, als es das Schicksal für ihn vorgesehen hatte, darauf angewiesen, das Leben auf sich allein gestellt zu bewältigen. Alles spielte sich in seinem
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