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Fiebertraum

Fiebertraum

Titel: Fiebertraum
Autoren: George R.R. Martin
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hören. Und selbst dann wäre es zu hell gewesen. Julian würde nicht zu ihm kommen, erst nach Einbruch der Dunkelheit wieder. Aber dann wäre er längst tot. »Heute abend bin ich gestorben«, sagte er laut und zugleich so leise, daß er kaum sich selbst hörte. Er hustete und schluckte noch mehr Blut. »Mister Julian . . . «, röchelte er.
    Er ruhte sich für eine Weile aus und versuchte nachzudenken. Auf ihn war geschossen worden, und er war voller Löcher. Seine Brust mußte aussehen wie rohes Fleisch. Eigentlich müßte er längst tot sein, Marsh hatte direkt vor ihm gestanden. Nur er lebte noch. Sour Billy kicherte. Er wußte, warum er noch nicht tot war. Gewehrschüsse konnten ihm nichts anhaben. Er war jetzt schon fast einer von ihnen. Es war genauso, wie es Julian vorausgesagt hatte. Sour Billy hatte gespürt, wie es passierte. Jedesmal, wenn er in den Spiegel schaute, war er etwas heller, etwas weißer geworden, und seine Augen glichen mehr und mehr den Augen Julians. Er konnte es selbst sehen, und er dachte, daß er auch schon mehr in der Dunkelheit erkennen konnte. Während der vergangenen ein, zwei Jahre war es immer besser geworden. Das hatte das Blut bewirkt. Wenn ihm davon nur nicht immer so übel geworden wäre. Manchmal hatte er richtige Magenkrämpfe und mußte sich übergeben, aber er trank immer wieder, wie Julian es erklärt hatte, und das machte ihn stärker. Manchmal spürte er es, wie diesmal. Sie hatten auf ihn geschossen, und er war gefallen, aber er war nicht gestorben, nein, er lebte noch. Und erholte sich, genauso wie Damon Julian. Er war jetzt fast einer von ihnen. Sour Billy lächelte. Er würde hier liegenbleiben, bis er völlig wiederhergestellt wäre, und dann würde er aufstehen und Abner Marsh töten. Er konnte sich sehr gut vorstellen, welchen Schreck Marsh bekäme, wenn er Billy auf sich zukommen sah, den Billy, den er vermeintlich erschossen hatte.
    Wenn nur die Schmerzen nicht gewesen wären! Sour Billy fragte sich, ob Julian auch solche Schmerzen durchlitten hatte, als dieser dandyhafte Zahlmeister ihn mit der Degenklinge durchbohrte. Ihm hatte Mister Julian es aber gezeigt. Und Billy würde es auch einigen Leuten zeigen. Er dachte eine Weile darüber nach, über die Dinge, die er tun würde. Er würde in die Gallatine Street gehen, wann immer er dazu Lust hätte, und alle würden ihm respektvoll begegnen, und er würde sich die blonden Mädchen nehmen und die Kreolenladies anstatt der Huren aus den Tanzhallen, und wenn er mit ihnen fertig war, dann würde er ihr Blut trinken, und dann bekäme kein anderer sie mehr, und dann würden sie ihn nie mehr auslachen, wie die Huren es früher mit ihm getan hatten, in den traurigen alten Zeiten.
    Sour Billy Tipton malte sich gern aus, wie es sein würde. Aber nach einiger Zeit - ein paar Minuten, ein paar Stunden, er wußte nicht wie lange - schaffte er es nicht mehr. Statt dessen dachte er nur an seine Schmerzen, die sich bei jedem Atemzug meldeten. Dabei müßte es eigentlich weniger weh tun, dachte er. Und außerdem blutete er noch immer so schlimm, daß er sich schon richtig benommen fühlte. Wenn er sich erholte, warum blutete er dann noch? Plötzlich hatte Sour Billy Angst. Vielleicht war er noch nicht weit genug verwandelt. Vielleicht erholte er sich überhaupt nicht. Vielleicht könnte er es Abner Marsh niemals zeigen, vielleicht verblutete er. Er schrie auf. »Julian!« Er rief es so laut wie möglich. Julian könnte die Verwandlung abschließen, er könnte ihn stärker machen. Wenn er ihn nur irgendwie erreichen könnte, dann wäre alles in Ordnung. Julian würde für ihn sorgen. Das wußte Sour Billy. Was täte Julian denn ohne ihn? Er rief erneut, schrie so laut, daß der Schmerz ihm fast die Kehle zerriß.
    Nichts. Stille. Er lauschte auf Schritte, auf Julian oder einen der anderen, die kämen, um ihm zu helfen. Nichts. Außer . . . Er lauschte angestrengt. Sour Billy glaubte Stimmen zu hören. Und eine gehörte Damon Julian! Er konnte ihn hören! Erleichterung erfüllte ihn.
    Nur konnte Julian Billy nicht hören. Und selbst wenn er ihn gehört hätte, dann käme er nicht, nicht hinaus in die Sonne. Dieser Gedanke erfüllte Sour Billy mit Angst. Julian würde erst kommen, wenn es dunkel war, dann erst würde er die Verwandlung vollenden. Aber dann wäre es zu spät.
    Er müßte irgendwie zu Julian gelangen, beschloß Sour Billy Tipton, als er dalag in seinem Blut und von Schmerzen gepeinigt. Er müßte sich aufraffen und
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