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Feuer im Kopf - meine Zeit des Wahnsinns

Feuer im Kopf - meine Zeit des Wahnsinns

Titel: Feuer im Kopf - meine Zeit des Wahnsinns
Autoren: Susannah Calahan
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Restaurantbereich kam und einen herrlichen, tief hängenden Kronleuchter sah, wusste ich, dass ich doch schon einmal hier gewesen war, direkt bevor ich krank wurde, mit Stephen, seiner Schwester und deren Mann vor der Ryan-Adams-Show. Ich erinnerte mich nicht nur, hier gewesen zu sein, sondern auch noch daran, was ich bestellt hatte: Fish and Chips.
    Speckglanz. Maßlose Berge fetttriefender Pommes. Ich kämpfte gegen den Drang an, über den Tisch zu kotzen. Ich versuchte, Konversation zu machen, aber das Einzige, worauf ich mich konzentrieren konnte, war der glänzende Fisch mit den Pommes.
    Ich konnte nicht glauben, wie lebhaft diese Erinnerung wiederkehrte. Was hatte ich sonst noch vergessen? Was würde sonst wieder in meiner Erinnerung auftauchen, mich aus dem Gleichgewicht bringen und mich daran erinnern, wie dürftig mein Zugriff auf die Realität war?
    Beinahe jeden Tag taucht wieder etwas auf. Es kann etwas Unbedeutendes sein wie die moosgrünen Socken im Krankenhaus oder ein einfaches Wort, wie in dem Drugstore, als ich eine Packung Colace sah, den Stuhlweichmacher, den ich im Krankenhaus eingenommen hatte, und zugleich kamen auch die Erinnerungen an Schwester Adeline. In solchen Momenten muss ich unweigerlich denken, dass die andere Susannah mich ruft, als wolle sie sagen: Ich mag gegangen sein, aber ich bin nicht vergessen. Wie das Mädchen in dem Video: »Bitte.«
    Mit jeder Erinnerung, die ich wiedergewinne, weiß ich jedoch, dass es Hunderte oder gar Tausende gibt, die ich nicht heraufbeschwören kann. Egal mit wie vielen Ärzten ich spreche, egal wie viele Interviews ich führe oder wie viele Notizbücher ich durchstöbere, es wird viele Erfahrungen, Stückchen meines Lebens geben, die verschwunden sind.
    Eines Morgens, ein Jahr nachdem ich mit Stephen zusammengezogen war, schaffte ich es endlich, Kisten aus meiner alten Wohnung auszupacken. Ich öffnete eine kleine Kiste, in der ein alter kaputter Fön, ein Lockenstab, einige Notizbücher und eine kleine braune Papiertüte waren. In der Papiertüte steckte eine Postkarte von einer Frau mit rabenschwarzem Haar. Es war ein berühmtes Gemälde und ich wusste, dass ich es schon gesehen hatte, aber mir fehlte jeglicher Zusammenhang:
    Die Frau steht majestätisch da, man sieht sie im Profil, was ihre nach unten gebogene Nase und die lange Stirn übertrieben betont. Ihre bleiche Haut kontrastiert stark mit der Schwärze ihres Abendkleides, das ihre Schultern frei lässt, nur zwei mit Edelsteinen besetzte Träger halten das Kleid. Sie hält ihre unnatürliche Pose, indem sie ihr Gewicht auf die Fingerspitzen ihrer rechten Hand lehnt, die sich auf einen Holztisch stützen; mit der anderen Hand hebt sie den Saum ihres Rockes mit einer königlichen Geste. Es ist eine verführerische und gekünstelte Pose. Für mich sieht sie zugleich hochmütig und krank aus, als sei sie zu arrogant, um zuzugeben, dass sie todkrank ist.
    Diese Frau hatte etwas unwiderstehlich Anziehendes, anders als die völlig fremdartige Mischung aus Anziehung und Abstoßung, die ich angesichts von Dr. Baileys verzerrter Version einer menschlichen Gestalt empfunden hatte, dem Carota -Bild. Während ich dieses Frauenbild in mich aufnahm, durchflutete mich ein altbekanntes Gefühl, eine prickelnde, heitere Empfindung, die mich an meine Kindheit erinnerte. Nach kurzer Überlegung kam ich auf die Quelle: Dasselbe Gefühl hatte ich gehabt, wenn ich als Kind im Kleiderschrank meiner Mutter herumschnüffelte. Ich starrte das Bild noch einige Minuten an und versuchte, die Verbindung zwischen dem Bild und der vergessenen Erinnerung herzustellen, bevor ich neugierig genug war, um die Postkarte umzudrehen.
    Es war Madame X von John Singer Sargent aus dem Jahr 1884. In der Tüte befand sich außerdem die Quittung mit dem Datum des Kaufs. Ich hatte die Postkarte am 17. Februar 2009 für 1,63 Dollar im Metropolitan Museum of Art gekauft, kurz vor meinem ersten Zusammenbruch in der Arbeit. Es gab nicht einen Fetzen, kein Jota, keine Scherbe einer Erinnerung an diesen Museumsbesuch. Ich konnte mich nicht erinnern, an diesem Februartag ins Met gegangen zu sein. Ich konnte mich nicht erinnern, vor dem Gemälde gestanden zu haben oder daran, was mich ursprünglich mitriss an dieser kraftvollen und doch verwundbaren Frau.
    Aber vielleicht kann ich mich irgendwann erinnern. Ich möchte gerne glauben, was Friedrich Nietzsche sagte: »Dass es ein Vergessen gibt, ist noch nicht bewiesen; was wir wissen, ist allein,
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