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Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling

Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling

Titel: Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling
Autoren: Alex Capus
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Furrer hingegen verkaufte ihre Pension im Juli 1934 aus freien Stücken. Sie fuhr auf einem Rheinschlepper nach Rotterdam und schlug sich dank Glück, Charme, Geld und einwandfrei arischem Äußeren durch bis nach Vancouver an der Westküste Kanadas. Dort eröffnete sie eine Konditorei und war mit ihren Schweizer Spezialitäten derart erfolgreich, dass sie innert weniger Jahre, übers ganze Land verstreut, achtzehn Zweigniederlassungen gründete. Sie blieb ledig und wurde bei bester Gesundheit sehr alt. Zuletzt lebte sie auf Vancouver Islands in einer komfortablen Seniorenresidenz am Rand eines Waldes, in dem es tausendjährige Mammutbäume, mannshohen Farn, Pumas und Schwarzbären gab. Vom Balkon ihrer Wohnung aus hatte sie Sicht auf den Pazifischen Ozean; bei den großen Felsen am nördlichen Ende des Strandes zog jeden Nachmittag um zehn nach zwei Uhr eine Herde Orca-Wale vorbei.
    Polizeidetektiv Walter Gohl verbrachte lange Monate im Spital, bis die Chirurgen seinen zerschmetterten Unterkiefer wiederhergestellt hatten. Er quittierte den Polizeidienst und ging in Rente.
    Dem mutigen Reporter von der »National-Zeitung« kam im Lauf der Zeit allmählich und ohne äußeren Anlass die Freude erst am Beruf und dann auch am Leben abhanden – ein Unglück, das früher oder später vielen widerfährt, die die Welt ständig durch die Schießscharte betrachten. Er nahm irgendeine Stelle beim Staat an und soff sich ziemlich schnell zu Tode.
     
    *
     
    Marie Stifter und Ernst Walder gingen nach der Totenfeier auf den Gottesacker Wolf, wo Marie das Grab ihrer Tante Erna zwar nicht finden konnte, trotzdem aber triumphierend lächelnd ihren Verlobten zu einem endlos langen Spaziergang zwischen den frischen Gräbern nötigte. Am dritten Sonntag nach Ostern 1934 heirateten sie abmachungsgemäß. Sie zeugten zwei Töchter, bauten ein Haus, pflanzten zahlreiche Obstbäume und verfolgten einander lebenslang mit nie erkaltendem Hass. Im Laufe der Zeit entfernten sie sich nicht etwa voneinander, sondern rückten im Gegenteil näher zusammen. Großmutter ging nach der Geburt der Töchter kaum mehr aus dem Haus, und auch Großvater verbrachte immer mehr Zeit daheim, da er nacheinander die Fußballschuhe an den Nagel hängte und den Dirigentenstab, das Präsidium im Turnverein sowie die politischen Ämter in jüngere Hände legte. Die zwei Mädchen flohen vor der vergifteten Atmosphäre des Elternhauses, kaum dass sie volljährig waren, worauf sich Großvater 1956 in Paris für 960 000 alte französische Francs einen Citroën DS mit hydropneumatischer Federung bestellte – und zwar nicht etwa das Basismodell, sondern die apfelgrüne Luxusausführung mit auberginefarben abgesetztem Schiebedach und karamelbraunen Ledersitzen.
    Im Alltag war der Wagen nicht zu viel nütze, denn im Dorf war alles Wichtige nah: das Schulhaus, die Bäckerei, die Molkerei, die Metzgerei, die Post, das Wirtshaus »Zur Traube«. Aber wenn die Schulferien anbrachen, packten meine Großeltern den Kofferraum voll und flohen vor dem häuslichen Krieg, nur leider miteinander. Die ersten paar Jahre ging die Fahrt stets nach Italien, mit jedem Mal ein bisschen tiefer in den Süden, später auch nach Spanien, nach Großvaters Pensionierung sogar nach Jugoslawien und Griechenland. Er saß über Tausende von Kilometern am Steuer, sie auf dem Beifahrersitz; er knackte mit den Kiefergelenken und schwieg, während sie mit großer Ausdauer seinen Fahrstil kommentierte. Grimmig entschlossen stampften sie durch den Circus maximus und die Uffizien, erbarmungslos gondelten sie Seite an Seite durch die Kanäle Venedigs, holperten auf Eselsrücken hinauf zur Akropolis, ritten auf lahmenden Wildpferden durch die Camargue; voller Hass begleiteten sie einander zu Stierkämpfen, Vulkanausbrüchen und Opernaufführungen, und all das nahm erst im November 1985 ein Ende, als meine Großmutter plötzlich an Herzschwäche starb. Großvater lebte noch zehn weitere Jahre. Als seine Sehkraft nachließ, schenkte er den Citroën DS meiner Mutter, welche ihn wiederum mir überließ, der ihn mangels Geld für den Unterhalt ziemlich schnell zuschanden ritt. Großvater pflegte weiter seinen Apfelhain und versank immer tiefer in Bitternis und Einsamkeit, woraus weder Töchter noch Enkel ihn je befreien konnten.
     
    *
     
    Die Geburt des Citroën DS 1955 war übrigens ein revolutionäres Ereignis in der Automobilgeschichte. Er hatte vier Zylinder und zwei Liter Hubraum, 75 PS bei 4500 Umdrehungen
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