Falsche Väter - Kriminalroman
Peters sich die Fotos des Opfers vor. Es waren zehn
Fotografien in ziemlich schlechter Qualität, was wahrscheinlich am Drucker lag.
Dennoch zuckte Peters erneut zusammen, als er die Bilder sah. Das Gesicht des
Toten sah aus, als wäre es von irgendwelchen Tieren angefressen worden.
Dann besah Peters sich eine Nahaufnahme des Geschlechtsteils
beziehungsweise dessen, was davon übrig geblieben war. Genau konnte er immer
noch nicht erkennen, was da im Einzelnen mit dem Hodensack und der Eichel
gemacht worden war, denn alles war voller Blut. Er würde die Einzelheiten des
Obduktionsberichts abwarten müssen.
Wenn die Verstümmelungen tatsächlich post mortem vorgenommen worden
waren, wie Nora Norden vermutet hatte, dann war diese Sauerei vielleicht ein
Hinweis, ein Zeichen, eine verschlüsselte Botschaft. Und während Peters die
Fotos betrachtete, beschlich ihn das eigenartige Gefühl, dass diese Botschaft
ihm galt; ihm ganz persönlich. Gleichzeitig spürte er, dass dieser Fall sich
ausweiten und die Akte wachsen würde.
Er legte die Fotos beiseite und wandte sich erneut den Berichten zu.
Als die ersten Kollegen bei der Hütte angekommen waren, war es Viertel nach
vier gewesen. Man hatte den Tatort abgesperrt, die Spuren gesichert,
Personalien aufgenommen. Die übliche Routinearbeit. Natürlich war auch der
Wagen überprüft worden, der neben der Hütte stand. Er war ordnungsgemäß
gemeldet; als Halterin war die Frau des Toten ermittelt worden. Eine Beamtin,
die auf solche Dinge spezialisiert war, war zu ihr geschickt worden. Für Peters
war das nichts. Er konnte sich nicht mal auf Beerdigungen ein blödes Grinsen
verkneifen.
Das Mädchen war noch am Abend ärztlich untersucht worden. Weil
Peters keine Fluchtgefahr sah, war er einverstanden gewesen, dass sie
anschließend nach Hause gebracht wurde. Sie hatte sich zu van de Loo fahren
lassen, der mit ihr am Tatort angetroffen worden war. Peters kannte van de Loo.
Sie waren sich im Laufe der Zeit einige Male bei Ermittlungen in die Quere
gekommen und nicht besonders gut aufeinander zu sprechen. Wie Peters dem
Bericht entnahm, war van de Loo mit dem Pkw in die unmittelbare Nähe des
Tatorts gefahren, obwohl es sich um ein ausgewiesenes Naturschutzgebiet
handelte. Peters unterstrich diese Stelle und schrieb gleich eine Mail an die
Kollegen, damit van de Loo ein Knöllchen bekam. Gleichzeitig sollte dafür
gesorgt werden, dass Peters das Mädchen am nächsten Tag persönlich befragen
konnte.
* * *
Er war in der Welt gewesen. Sie war schmutzig und unordentlich.
Voller Fehler und bevölkert von Menschen, die sich schuldig machten. Tag für
Tag.
Jetzt war er zurückgekehrt. Er war ruhig. Vollkommen ruhig. Nichts
störte ihn. Alles hatte seine Ordnung. Das Wasser bewegte sich nicht.
Spiegelglatt lag die Oberfläche des Sees vor ihm. Sein Atem floss. Kein
Rauschen in den zarten Blättern der Bäume. Keine Wolke am Himmel. Nichts.
Unendliche Stille. Tiefer Friede. Endlich!
Sein Geist war aufs Höchste angespannt, und gleichzeitig fühlte er
sich leicht und frei. Er war konzentriert und leer, vollkommen leer. Ohne
Gedanken, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft. Nur Gegenwart und Vergessen. Teil
eines Bildes, hingehaucht auf Papier. Eine Berglandschaft, über der ein Adler
schwebte. Ein großes, wunderbares Tier. Der Mann sah die Augen des Raubvogels.
Sie waren schön. Sie waren klar. Sie waren kalt.
Er machte eine winzige Handbewegung, und der Vogel verschwand in der
anderen Welt. Er flog dorthin, wo niemals Ruhe war. Dorthin, wo alles auf Lügen
aufgebaut war und niemand die Kraft zur Wahrhaftigkeit hatte. Dorthin, wo auch
er herkam und wohin er noch drei Mal zurückkehren musste.
Er konzentrierte sich auf seine Atmung. Der Atem reinigte ihn, und
die Stille kehrte zurück. Lange saß er da, tief in sich versunken. Dann stand
er auf, trat vor die Glastür und schaute in den Garten. Eine dichte Hecke
umrahmte ihn und schützte ihn vor den Blicken der Nachbarn. Jeder Stein lag an
seinem Platz, und die Muster, die er mit einer Harke gezogen hatte, strahlten
Vollkommenheit und Harmonie aus.
Er wandte sich langsam um und ging zu einem kleinen Tisch. Lange
betrachtete er die Urne, die er für seine eigene Asche geschnitzt hatte. Dann
nahm er die Teeschale in die Hand, die er sich aus Japan hatte schicken lassen.
Sie war teuer gewesen, aber er würde sie dennoch bald zerstören müssen. Genauso
wie die Schale, aus der er beinahe zwanzig Jahre lang getrunken hatte und
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