Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Falkengrund Nr. 34

Falkengrund Nr. 34

Titel: Falkengrund Nr. 34
Autoren: Martin Clauß
Vom Netzwerk:
verließ, begann ihr Mund eine Zauberformel, blitzschnell und zielsicher, als wäre sie eine Superheldin, die tagtäglich die Welt zu retten pflegte, indem sie unsichtbare Feinde mit Kräuterwürfen und wohldosierten Sprüchen zur Strecke brachte. Die Formel war uralt und universal, ein panpsychistischer Vers, der die Seelen der Dinge beschwor und sie dazu zu bringen trachtete, harmonisierend und verbindend zu wirken.
    Margarete hatte gelernt, einen Zauber, wenn er einmal ausgesprochen war, nicht anzuzweifeln, sondern ihm jedes nur denkbare Vertrauen entgegenzubringen. Entweder, man zauberte oder man zauberte nicht. Halbe Magie war immer schlechte Magie.
    „Sanjay … Nein!“, keuchte eine männliche Stimme, die Sir Darren gehören mochte oder nicht. „Nimm mich nicht mit. Du musst … alleine … alleine …“ Und eine weibliche Stimme wimmerte. Während Margarete in den Kellerraum stolperte, verflochten sich beide zu einer zweistimmigen Arie des Grauens.
    Daran schlossen sich Sekunden an, die man nicht beschreiben konnte. Es war, als ziehe einem jemand die Welt unter den Füßen weg. Die Atmosphäre war geprägt von einer einzigen Empfindung: dem Gefühl, dass etwas verschwand. Etwas, jemand oder alles. Margarete taumelte vorwärts in das gefühlte Nichts hinein. Keine Schreie, keine Geräusche, keine menschlichen Körper waren dort. Sie kollidierte mit einem der Regale, prallte zurück, stieß gegen ein anderes Regal, und es machte kein Geräusch. Sie befand sich in einem Vakuum, magische Augenblicke lang, dann kehrte die Welt zurück.
    Und mit ihr eine der Personen.
    Margarete stolperte über den liegenden Körper, ging zu Boden.
    „Sir Darren?“ Ihre Stimme löste ein merkwürdiges Echo aus, als würde eine verstimmte Gitarre dabei mitschwingen. „Sanjay?“ Das Echo verschwand, der Klang ihrer Stimme normalisierte sich.
    Die Dinge wiederholten sich. Margarete über einem leblosen Körper. Tastend. Nach einem Puls suchend. Verzweifelnd über der Aussichtslosigkeit ihrer Bemühungen. Der Körper gehörte einem Mann. Der Anzug, diese Manschettenknöpfe, die hageren Gliedmaßen darunter. Die schmalen Gesichtsformen, die ausgeprägte Nase, die borstigen Augenbrauen. Das alles kannte sie.
    Vor wenigen Wochen: Margarete über dem Körper von Sanjay Munda. Kein Puls. Unfassbares Grauen. Schock. Abschied.
    Heute: Margarete über dem Körper von Sir Darren Edgar. Kein Puls.
    Margarete hätte gerne geschrien. Allen Schmerz einfach an die Welt weitergegeben. Sollte die Welt doch sehen, was sie damit anfing! Aber der Schmerz war ihr Schmerz und weigerte sich, sie zu verlassen. Statt des Schreis schaffte sie nur trockenes Schluchzen, langsame Tränen, ein Gefühl von Schwäche.
    Einer unendlichen Schwäche, die dennoch nicht zu einer Ohnmacht reichte.

8
    Im Jahr 1978
    Lorenz von Adlerbrunn befand sich im linken hinteren Zimmer. Er und seine Frau Katharina hatten es als Schlafgemach benutzt, seinerzeit, ehe er zuerst sie und dann sich selbst getötet hatte. Vielleicht war es die Erinnerung an die schönen Nächte mit ihr, die den Baron unvorsichtig werden ließ. Vielleicht glaubte er nicht, dass sie ihn an diesem Ort hintergehen würde. Er vertraute ihr – und das ausgerechnet, obwohl er sie hundert Jahre zuvor aus falscher Eifersucht heraus getötet hatte.
    Der Spuk war in die Falle gegangen, wie Sir Darren und Katharinas Geist es sich zusammen ausgedacht hatten. Der gemeinsame Plan eines Lebenden und einer Toten trug Früchte. Dazu hatten sie das Wesen, das zu Lebzeiten nie zu Vertrauen fähig gewesen war und das nach seinem Tod danach dürstete wie der Verdurstende nach dem Wasser, betrügen müssen. Das Böse, so schien es, war nur durch Böses zu bezwingen in dieser grausamen, hoffnungslosen Welt, in der sie lebten. Lorenz, der nach Sir Darrens Wunsch nicht weiter morden und nach Katharinas Willen nicht ins Jenseits eingehen durfte, wo sie sich aufhielt, musste an einen festen Ort gebannt werden – in dieses Zimmer.
    Der Spuk bemerkte wohl zu spät, dass der Raum mit Bannsprüchen und mächtigen Symbolen präpariert war. Er kannte diese Dinge nicht, hatte nie ihren Einfluss erlebt.
    Jetzt bekam er sie zu spüren – das war für Sir Darren unzweifelhaft zu erkennen. Die Bewegungen des Barons verlangsamten sich, ruckelten sogar, und es sah aus, als würde ein Film langsamer abgespielt. Dabei verblassten die Konturen des Spuks nicht etwa. Im Gegenteil: Sie wurden intensiver, und man bekam den Eindruck, seine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher