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Falkengrund Nr. 34

Falkengrund Nr. 34

Titel: Falkengrund Nr. 34
Autoren: Martin Clauß
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hinzusehen. Er zumindest konnte dort nichts erkennen.
    Sie schluckte. „Etwas kam aus dem See.“
    „Aus dem See?“ Als sie seine Hände abschüttelte, stand er auf und sah auf das Wasser hinaus. „Aus dem See“, wiederholte er dabei gedankenverloren.
    „Trent …“ Er zuckte zusammen, als sie plötzlich hinter ihm stand und ihn sanft am Arm berührte. Dass sie ohne seine Hilfe auf die Beine kommen würde, hatte er nicht gedacht. Sie hatte sich schnell erholt! „Gibt es Geschichten über Lake Easton? Schaurige Geschichten?“ Sie klang gefasst, wie jemand, der sich darauf vorbereitet, ein furchtbares Geheimnis zu erfahren. Frauen erwiesen sich in solchen Situationen als erstaunlich geradlinig. Während Männer zunächst einmal alles ausschlossen, was dem wissenschaftlichen Weltbild widersprach, interessierten sich Frauen vom ersten Moment an für übernatürliche Lösungen. Die Philosophen der Aufklärung mochten sich in ihren Gräber umdrehen: Sie hatten ihre Arbeit nur für die männliche Hälfte der Bevölkerung getan.
    Trent wich ihrer Frage aus. „Gibt es einen Ort in unserem schönen England, über den man sich keine Gruselgeschichten erzählt?“
    „Ich habe einen Mann gesehen“, sagte Lauren unvermittelt. Ihr Gesicht war so ernst, als stünde sie vor dem Grab ihrer Mutter. Männer verscheuchen Angst mit Spott. Frauen verscheuchen sie mit einem tiefen feierlichen Ernst. Frauen sind mit ihrer Methode erfolgreicher. „Er kam an die Oberfläche und sah mir entgegen.“
    „Moment, meine Liebe! Jemand schwebte aus der Tiefe empor?“
    „Nein, er stieg heraus, wie man aus einer Grube steigt. Wissen Sie, dieser Mann drückte seine Hände gegen die Wasseroberfläche, stützte sich auf und stemmte sich nach oben. Es ging sehr schnell. Bevor er sich ganz aufgerichtet hatte, konnte ich es nicht mehr ertragen hinzusehen.“
    Trent schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. „Jetzt wird mir alles klar! Ich weiß, was Sie gesehen haben müssen, Lauren. Da muss ein Boot gewesen sein. Und dieser Mann – er saß in dem Boot und stand gerade auf, als Sie hinsahen.“ Er kicherte wie ein Mädchen. „Ich denke, er wollte Sie sich betrachten. Bestimmt hat er Sie seinerseits für eine Erscheinung gehalten.“
    „Sehen Sie da draußen irgendwo ein Boot?“, gab Lauren beinahe kalt zurück.
    Trent verstummte. Der Lake Easton war nicht groß. Er erstreckte sich eineinhalb Meilen in der Länge und maß an seiner breitesten Stelle keine halbe Meile. Von ein paar kleineren Einbuchtungen abgesehen, die von Gebüsch überschattet wurden, lag der See in seiner Gesamtheit vor ihnen, hell beschienen von einem wolkenfreien Mond. Falls das Gewässer Geheimnisse vor ihnen verbarg, mussten diese unter der Oberfläche lagern – hier oben konnten sie alles überblicken.
    „Sie denken, ich hätte es mir eingebildet“, stellte Lauren fest. Unzufriedenheit sprach überdeutlich aus ihrer Stimme. Trent gefiel nicht, wie nüchtern und erwachsen sie in den letzten Sekunden geworden war. Ihre Einstellung zu ihm schien sich durch den Vorfall grundlegend verändert zu haben. Seine Art bezauberte sie nicht mehr. Sie war enttäuscht von ihm, aber warum? Weil er ihr nicht glaubte? Oder weil er nicht hinausfuhr, um es mit dem Geist aufzunehmen, den sie zu sehen geglaubt hatte? War es das, was Sie wollte? Einen Helden, der den Spuk in die Knie zwang?
    „Wenn Sie es wünschen, werde ich mich der Sache annehmen“, sagte er. Sie wurde mit jedem Atemzug, den sie tat, begehrenswerter. Ihre fleischige, lockende Unterlippe schimmerte feucht. Die Schwäche, die er an ihr gespürt hatte, hatte sich im Handumdrehen in Stärke verwandelt. Würde er damit umgehen können?
    „Das ist anständig von Ihnen. Ich komme mit“, entschied sie. Und ehe er es verhindern konnte, hatte sie ihren Rock hochgerafft und war in den Kahn gestiegen. Das Schaukeln brachte sie aus dem Gleichgewicht, und sie plumpste auf niedlichste Weise in das Boot.
    Sofort war er bei ihr. „Sie müssen vorsichtig sein“, mahnte er. „Eben hätten Sie mir um ein Haar das Bewusstsein verloren.“
    Sie lächelte ihm sanft entgegen, als er zu ihr stieg. „Vielleicht habe ich das tatsächlich – und alles, was nun kommt, ist nur ein Traum.“
    Trent hatte die Hand schon am Seil, um das Boot loszumachen. Ehe er es tat, drehte er sich um und warf noch einen langen Blick auf den Lake Easton hinaus. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, wie alleine sie hier waren. Bisher hatte er nur sie
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