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Falkengrund Nr. 31

Falkengrund Nr. 31

Titel: Falkengrund Nr. 31
Autoren: Martin Clauß
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Regale haben alle in Brusthöhe eine Schiene“, erklärte Wim Scherz. Er nahm Margaretes Hand, führte die Frau zu einem der Regale und legte ihre Hand auf die Metallleiste. „Wenn Sie sich daran orientieren, werden Sie nicht versehentlich in die Regale fassen. Es könnte unangenehm sein. Manche Dinge berührt man nicht gerne.“
    Die Dozentin bedankte sich mit einem Kopfnicken und ging los, langsam und mit leisen Schritten. Mit jedem Meter, den sie sich von den anderen entfernte, wurde das Rufen deutlicher. Ja, das war Sanjays Stimme. Aber sie klang so ... verzweifelt. Machte das die Akustik, oder war die Studentin tatsächlich in einer Notlage? Obwohl sie sich an den Schienen entlang tastete, wie der Beamte es ihr geraten hatte, konnte sie nicht verhindern, dass sie ab und mit Gegenständen in Kontakt kam, die über das Regal hinausragten. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Sie hatte die ganze Zeit über nicht sehen können, was hier alles herumlag. Wim Scherz hatte Anekdoten zu einigen wenigen Objekten erzählt, das war alles.
    Wenn sie etwas berührte, hatte sie das Gefühl, damit etwas zu wecken, eine Art Energie, die sich kaum hörbar entlud. Zwischen die Air Condition und Sanjays ferne Rufe mischte sich manchmal noch etwas Drittes. Ein Wispern.
    Sie bog zweimal ab, fing fremde Gerüche auf, bitter, wie von Bränden oder Chemikalien. Unvermittelt stieß sie gegen etwas Langes, und es fiel aus dem Regal. Sie bückte sich. Dann fiel ihr ein, dass es ihr nicht gelingen würde, es an den exakt richtigen Ort zurückzulegen. Vorsichtig schob sie es an den Rand des Ganges und ließ es dort liegen. Es schien ein Gewehr zu sein, aber sie war nicht sicher.
    Und plötzlich das Flüstern: „Junge, kannst du das Ding überhaupt alleine hochheben?“
    Margarete zuckte. Sie hatte es deutlich gehört, ganz in ihrer Nähe. „Wer ist da?“, fragte sie. Eine Antwort erhielt sie nicht. Doch das Flüstern erklang noch einmal:
    „Pass auf, dass du dir nicht wehtust, Junge.“
    Dann war es verschwunden. Margarete stieß hörbar den Atem aus.
    Immer mehr Stimmen wurden unterscheidbar, auch wenn das meiste, was sie sagten, unverständlich war. Die Stimmen blieben gleich, wenn sie stoppte, und sie änderten sich, wenn sie weiterging. Es war, als würde ihr Weg nicht von Regalen und Gegenständen gesäumt, sondern von Menschen. Tausende schienen rechts und links von ihr Spalier zu stehen. Sie hatte den Weg in eine andere Welt eingeschlagen. Hatte sich auch optisch etwas verändert? Was würde sie sehen können, wenn sie sehen könnte?
    Das Wispern kam von allen Seiten. Es folterte ihre Nerven, und außerdem waren Sanjays Rufe immer schwerer herauszuhören. „Still“, hauchte sie. „Still. Nicht so laut …“
    „Wenn du nicht still bist, muss ich dir den Mund zunähen“, grollte eine tiefe Stimme rechts von ihr, und Margarete schauderte. Ihr war scheußlich kalt, und das, obwohl sie von warmer Unterwäsche bis zum Wintermantel in mehrere Schichten dicker, trockener Kleidung gehüllt war. Selbst die Wollhandschuhe trug sie noch. Wie mochte sich erst Sanjay fühlen, deren leichtere Bekleidung vollkommen durchnässt war?
    Hörte Sanjay das alles auch? Wo war sie?
    Langsam ging Margarete weiter. Je mehr sie die Ohren anstrengte, um die Rufe der Studentin zu hören, desto deutlicher filterte ihr Gehör auch andere Stimmen heraus. Unerwünschte Stimmen.
    „Nenn mich nicht noch einmal einen Dummkopf“, brauste es über ihr. „Ein einziges Mal noch, verstehst du, und ich schlage dir mit diesem Hammer deinen verdammten Klugscheißer-Schädel ein!“
    Unwillkürlich duckte sich Margarete. Sie glaubte die Studentin rechts von sich zu hören, vielleicht sogar im nächsten Gang schon. „Sanjay?“, fragte sie halblaut. „Sanjay?“
    Und dann drangen Schreie zu ihr durch. Schreie von bis aufs Blut gequälten Menschen. Stöhnend presste sie die Hände auf die Ohren. Das Schreien und Flüstern wurde dadurch nicht gedämpft. Ein Brummen und Sausen baute sich in ihrem Schädel auf, als höre sie über einen Kopfhörer ein Dutzend Radiosender gleichzeitig. Der Lärm ließ sich nicht abstellen.
    Die Dozentin begann schneller zu laufen. Für sie stand fest: Das Grauen würde erst ein Ende finden, wenn sie diese unterirdische Totenwelt verlassen hatte. Aber wo befand sich der Aufzug? Wartete Sanjay dort auf sie? Blind und taub, wie sie war, konnte sie stundenlang hier umherirren.
    Ächzend prallte sie mit dem Kopf gegen eine Regalleiste. Sie
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