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Falkengrund Nr. 30

Falkengrund Nr. 30

Titel: Falkengrund Nr. 30
Autoren: Martin Clauß
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der Tür bot nicht genügend Platz für zwei Menschen. Aber nun führte Konrad wenigstens einen Dialog mit ihr – das war ein kleiner Schritt, vermutlich in die richtige Richtung.
    „Wo ist Samuel?“, fragte sie erneut. Sie durfte nicht zu viele Fragen auf einmal stellen. Musste sich so oft wiederholen, bis er antwortete. An den Faktor Zeit durfte sie jetzt nicht denken. Vielleicht eilte es ja gar nicht. Wenn der Herr des Hauses nicht auf Falkengrund weilte, blieb er vielleicht noch länger weg, ein paar Stunden oder Tage. Dann würde sie einen Weg finden, Konrad zu befreien. Und die anderen, gesetzt den Fall, sie waren hinter den anderen Türen eingesperrt.
    Wenn Edeltraud blinzelte, schienen Bilder in ihr aufzuglimmen. Zunächst hatte sie nichts darauf gegeben, hatte das Phänomen auf die Nachwirkungen des Blitzlichts zurückgeführt. Und auf die Situation. Ihre Nerven. Jetzt unternahm sie bewusst den Versuch, die Augen für einige Sekunden zu schließen. Sie wollte wissen, was für Bilder das waren.
    Das Ergebnis war wie ein Schlag vors Gesicht.
    „Nein“, gurgelte sie. „Nein-nein-nein …“
    Sie sah Samuel vor sich – in einer Art Vision. Es spielte keine Rolle, in welche Richtung ihr Blick ging. Sie sah, was sie interessierte, woran sie gerade dachte. Samuel war in einem der Zimmer an einen ähnlichen Stuhl gefesselt wie Konrad. War umringt von den gleichen Apparaturen. Er wirkte nicht abgemagert, eher aufgedunsen. Seine Augen blickten glasig wie die eines Fieberkranken, seine wächserne Hand lag auf der Kurbel der Edison-Kiste und drehte sie langsam und unregelmäßig, während sein breiiger Mund unmenschliche Laute in den Trichter knarzte.
    Wenn Edeltraud die Augen öffnete, waren die Bilder weg, wenn sie die Lider schloss, tauchten sie wieder auf. Es dauerte nicht lange, da mischte sich eine dritte Person hinein: Mit geöffneten Augen sah sie Konrad, mit geschlossenen Samuel und … Charmaine! Der Französin erging es wenig anders als den beiden Männern. Auch sie saß in einem Sessel und war von elektrischen Apparaturen umgeben. Allerdings machte sie einen – zumindest körperlich – gesunden Eindruck. Ihre sanfte Schönheit war nicht zerstört und das, was von ihrer Kleidung zu sehen war, nicht besudelt. Ihre Blicke bohrten sich geradewegs in Edeltrauds Augen, und diese Blicke sagten … nichts, ganz und gar nichts. Während ihr Leib zur Hälfte unter einer geschlossenen schwarzen Decke, einer lebendigen Insekten-Decke, verborgen war, tat sie nichts. Sie drehte nicht an Kurbeln, sprach nicht. Eine Filmkamera surrte und nahm Charmaine auf. Von einem Projektor wurde ein Film, der exakt dasselbe zeigte, auf die weiße Wand geworfen. Eine Schreibmaschine vor Charmaine schrieb, ohne dass sie die Tasten berührte.
    Edeltraud konnte nur ein paar auf dem Kopf stehende Buchstaben auf dem herabhängenden Blatt Papier erkennen. Kleinbuchstaben. Sie reichten vollkommen aus, um sie erahnen zu lassen, was dort stand.
    denkst du mich ja nein
    „Ich denke dich“, flüsterte Edeltraud. „Bitte! Was geht hier vor?“
    „Du bist verloren“, brummte jemand. Samuel?
    „Ich bin Edeltraud.“ Überflüssig, aber sie sagte es immer wieder. Sahen die anderen sie auch? Erkannten sie sie? War ihnen überhaupt bewusst, in welcher Situation sie sich befanden? In welchen Zimmern waren sie eingesperrt? „Wer – ist – der – Herr – des – Hauses? Ich wiederhole: Wer – ist – der …“
    „Er kommt.“ Wer sagte das? „Er kommt zurück.“ Das war Konrad, der sprach. Voll ohnmächtiger Wut hämmerte Edeltraud mit den Fäusten gegen die Tür. Es blitzte.
    „ Sähr schönäs Bild “, meldete sich Charmaines unverkennbarer Akzent in ihren Ohren. „ Sähr ausdrucksvoll. Isch denkö disch. “
    „Ich denke dich“, murmelte Samuel.
    „Ich denke dich“, rieb Konrads zerschlissene Stimme.
    Edeltraud hatte den Eindruck, die Welt verändere sich zusehends. Zitternde, schwarz-weiße Stummfilme flackerten über die Wände, daneben Fotoprojektionen. Ob Filme oder Fotos, der Inhalt war fast immer derselbe: Konrad, Samuel und Charmaine in ihren Sesseln, gefangen, gefesselt. Nein, Charmaine schien nicht festgebunden zu sein. War es möglich, dass sie diese Tortur aus freien Stücken über sich ergehen ließ?
    War Charmaine der Herr des Hauses? Die Herrin? Was hatte es mit den Käfern auf sich? Dienten sie Charmaine als ergebene Armee von Helfern?
    Ab und zu mischten sich Bilder und Filmschnipsel in das Chaos, die von
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