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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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einfachsten Gefühlsfragen
konfrontierte und klare Antworten verlangte, empfand ich ihr Insistieren als
einen gewagten Versuch, meinen Brustkorb bis zum Hals aufzubrechen, um
anschließend an meinem Gehirn von unten zu zündeln.
    Sehr früh
in meiner Kindheit entdeckte ich den Zauber meines breiten Lächelns. Ich kann
mich noch erinnern, in welcher Streßlage mir mein Trick zum ersten Mal gelang.
Das Wohnzimmer war voller Menschen, eine breitgefächerte, mir gänzlich
unbekannte Familie kam zu Besuch. Ich war winzig und mußte trotzdem frontal
gegen diese unüberschaubare Seelenansammlung antreten, mich der Prüfung der
doppelten Anzahl von Augen stellen. Viele Münder grinsten mich an, Nasenlöcher
weiteten sich, die Luft war voller Lungendämpfe. Und jeder dieser Körper war
dabei, den Raum immer weiter aufzuheizen, jedermann glühte wie eine
100-Watt-Birne. Ich entschied mich, breit zu lächeln. Ich kam, lächelte und
gewann. Ich gewann trotz meiner tiefen Angst und war verblüfft, wie einfach es
war. Alle Anwesenden waren von mir begeistert. Andere Kindergenossen konnten in
solchen Situationen nur verkrampft grinsen, ich stellte dagegen ein
naturidentisches Gesichtsprodukt her. Ich mußte nichts sagen, mein Lächeln
sagte alles: Ich war ein glückliches Kind aus einer glücklichen Familie, und
mir ging es gut. In meinem Leben lächelte ich auf diese Weise nach und nach
Unmengen von Menschen an. Leider kam ich mir dabei, je bewußter ich es betrieb,
immer mehr wie ein Trottel vor.
    Was
Depressionen sind, erlebte ich schon ziemlich früh. Ich war zehn oder zwölf.
Aber auch Jahre später wußte ich noch nicht, was dieses Gefühl, das sich nicht
mitteilen ließ, eigentlich war und wie es hieß. Traurigkeit war das nicht. Die
Menge meiner Geheimnisse wucherte in mir kontinuierlich weiter. Als Kind hatte
ich sowieso nicht viel Zeit zum Grübeln, ich spielte dauernd Fußball. Ich
spielte jeden Tag Fußball, obwohl ich nicht besonders gut spielte und trotz des
Dauertrainings kaum technische Fortschritte machte. Bei Tortreffern, die in der
Regel den anderen geglückt waren, brüllte ich nie. Meine stumme Präsenz auf dem
Feld war trotzdem hochgradig emotional. Schnelle Bewegung versetzte mich schon
immer leicht in Trance, betäubte mich wie eine Droge.
    Zu meiner
Überlebensstrategie gehörte, daß ich keinen Fremdling in das Innere unseres
Prager Wohnungslabyrinths hineinließ. Wenn ich überhaupt einen Besuch empfing,
bestand er grundsätzlich nur aus einer oder zwei meiner Cousinen vom anderen
Ende des Flurs. Wer von außerhalb kam, wurde so lange an der Tür aufgehalten
und genervt, bis er wieder ging. Daß er die vielen seltsamen und so
unterschiedlichen Namen an der Tür zu sehen bekam, war schon schlimm genug.
Wenn ein solcher Störer vor der Türschwelle lange genug zermürbt wurde, kam er
in der Regel nie wieder. Unsere Wohnung war hochgradig verunstaltet, sie war
eine Mißgeburt voller Narben und häßlicher Kompromisse. Leider war kein
einziges Familienmitglied in der Lage, das zu erkennen. Auch die schlimmsten
Geschmacksverbrechen wurden einfach ignoriert. - Häßlich? Wieso häßlich? So
etwas ist doch nie häßlich.
    Den
meisten Erwachsenen fehlte aber nicht nur jeglicher Sinn für Ästhetik. Wegen
der vielen divergierenden Wünsche und Bedürfnisse, die es in unserer
Zwangsgemeinschaft gab, wurde die aktuelle und oft nur lächerliche
Funktionalität der Einrichtung über alle Maßen idealisiert, so daß der Wille,
auch geringfügigen Änderungen zuzustimmen, grundsätzlich gegen null tendierte.
Mein Grauen war nicht das Grauen meiner Damen, verzweifelt waren wir aber
trotzdem alle. Manche Tanten retteten sich in Putz- und Wischzwang ihrer
vertrauten Teilbereiche, ein solches Ventil hatte ich nicht. Die meisten Familienmitglieder
waren genügsam und freuten sich einfach, den Krieg überlebt zu haben. Über
ihren fehlenden Verschönerungswillen mußte man allerdings eher froh sein.
    Unsere
Wohnung war voll von dunklen Möbelstücken reicher und 1945 nach Österreich
geflohener Deutscher. Diese Einrichtung war zwar nicht nur häßlich - vor allem
im Zimmer meiner Mutter gab es einige originelle Prachtexemplare -, alle
verrückbaren Einzelteile der Einrichtung waren aber trotzdem gefühllos, nur
nach fragwürdig praktischen Gesichtspunkten zusammengestellt; das heißt -
zusammengeschoben, aufeinandergetürmt oder ineinander verkeilt. Die klobigsten,
unmöglichsten Monster standen meiner Meinung nach in meinem
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