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Extrem: Die Macht des Willens (German Edition)

Extrem: Die Macht des Willens (German Edition)

Titel: Extrem: Die Macht des Willens (German Edition)
Autoren: Norman Bücher
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Fokus richtet sich immer nur auf den jeweils nächsten Schritt. Auf jeden einzelnen Felsen, den ich passiere. Ich bin nur im Hier und Jetzt. Du bekommst hier bei Nacht fast automatisch einen Tunnelblick und siehst nur einen winzigen Ausschnitt aus dieser gewaltigen Bergwelt. Alles andere ist in diesem Moment ausgeblendet. Meter für Meter steige ich höher und die Luft wird immer kälter. Jeder Atemzug erzeugt eine weiße Wolke, die dann schnell wieder in der pechschwarzen Nacht verschwindet. Ich fühle mich wie eine langsame, schwere Dampflok, die sich hier den Berg hinaufquält. Über Felsen, Geröll und Schotter bewege ich mich weiter vorwärts. Weiter oben kann ich ganz sanft einzelne Stimmen wahrnehmen. „Ist das endlich der Gipfel?“ Dann, nach der letzten steilen Kurve, habe ich es geschafft und stehe auf dem Croix du Bonhomme, „dem Kreuz des guten Mannes“, auf 2.479 Metern.
    Nach einem kurzen Augenblick des Rastens folgt für mich einer der anspruchsvollsten Streckenabschnitte des gesamten Rennens: der Abstieg nach Les Chapieux. Knapp 1.000 Meter auf nur 5,9 Kilometer geht es sehr steil bergab! Kantige Felsen, matschige Pfade, feuchte Wiesenabschnitte und immer wieder tückische Schluchten machen diesen Abstieg extrem anspruchsvoll. Die Anstiege beim Ultra-Trail Mont Blanc sind schon heftig und verlangen einem wirklich alles ab, doch dieser Lauf wird definitiv bergab entschieden. Jeder Schritt bestimmt über deine Gesundheit. Mach einen falschen und das Rennen kann vorbei sein. Ich muss bei jedem Schritt genau wissen, wo ich meinen Fuß als Nächstes hinsetze. Der Untergrund ist rutschig und schlammig, immer wieder muss ich über Felsen steigen. Einhundert Prozent Aufmerksamkeit sind hier angesagt. „Konzentriere dich!“, sage ich mir immer wieder. Plötzlich funkelt etwas Goldfarbenes im Schein meiner Stirnlampe. Ein Läufer liegt vor mir am Wegesrand, eingehüllt in seine Überlebensdecke, mit schmerzverzerrtem Gesicht kämpft er mit sich und seinen Emotionen. Tränen kullern ihm über die Wangen. Für ihn scheint das Rennen nach nicht einmal einem Drittel der Strecke beendet. Weiter unten sehe ich eine kleine Lichtquelle. Ist das etwa die Verpflegungsstation? Nur ganz langsam komme ich dieser näher. Über steile und rutschige Wiesen geht es bergab. Ein Weg ist fast nicht mehr auszumachen. Im Winter dient dieser Untergrund als Skipiste, an diesem August-Wochenende dürfen wir Läufer den Abhang hinunterpreschen. Was für ein Mörderabstieg! Die Lichtquelle unten im Tal wird immer größer und ich nehme auch ganz leise Musikgeräusche wahr. Mit jedem gelaufenen Meter werden sie lauter. Die Klänge von „Satisfaction“ der Stones dröhnen mir entgegen. In mir steigt ein Gefühl der Wärme und Sicherheit auf. „Bald bist du unten“, sage ich mir. Ist es nicht geil, hier in der pechschwarzen Nacht inmitten der mächtigen Bergwelt die Rolling Stones zu hören?, denke ich. Der Rhythmus beflügelt mich und im lockeren Laufschritt erreiche ich schließlich den Verpflegungspunkt in Les Chapieux. Fünfzig Kilometer habe ich bereits zurückgelegt. Meine Uhr zeigt 4:45 Uhr. Ich bin schon seit über zehn Stunden nonstop unterwegs und begebe mich gleich ins große und warme Zelt. Mein Magen schreit nach etwas Essbarem, in den letzten Stunden habe ich mich ausschließlich von Riegeln und Gels ernährt. Das ist bei diesem Lauf definitiv zu wenig, denn hier hast du einen ganz anderen Energiebedarf: das Acht- bis Zehnfache eines normalen Marathonlaufs. Der köstliche Geruch von Nudelsuppe steigt mir in die Nase. Ich esse gleich zwei Teller davon, bevor ich mir noch ein gut belegtes Käsebrot in den Mund schiebe. „Ah, was für eine Wohltat!“ Die Verpflegung ist beim Ultra-Trail Mont Blanc wirklich ausgezeichnet und reichhaltig. Von Brot, Obst, diversen Riegeln, Schokolade, Keksen, verschiedene Wurst- und Käsesorten, Suppe, Nudeln gibt es fast alles, was das Läuferherz begehrt. Und das im Abstand von fünfzehn Kilometern. Die sehr angenehmen Temperaturen, die Musik und die fantastische Atmosphäre im Zelt laden zu einem längeren Verweilen ein. Doch wenn man es sich hier erst einmal bequem gemacht hat, dann fällt es einem umso schwerer, wieder weiterzulaufen. „Ich will weiter“, sage ich mir und verlasse das Zelt.
    Fünf Stunden später genieße ich einen der besten Ausblicke auf das gewaltige Mont Blanc-Massiv. Ich befinde mich auf dem Gipfel des Col de la Seigne. 2.516 Meter über dem Meeresspiegel.
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