Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Extrem: Die Macht des Willens (German Edition)

Extrem: Die Macht des Willens (German Edition)

Titel: Extrem: Die Macht des Willens (German Edition)
Autoren: Norman Bücher
Vom Netzwerk:
die Müdigkeit besiegen? Oder besiegt sie dich? Die Versuchung ist groß, sich an einer der komfortablen Verpflegungsstationen entlang der Strecke niederzulassen und für ein paar Stunden zu schlafen. In meiner Vorstellung taucht ein großes, weiches Bett auf, zarte Hände massieren meine geschundenen Beine, genüsslich trinke ich von meiner heißen Schokolade … Das stellt leider nur mein Wunschdenken dar, die Realität sieht anders aus: kalt, dunkel, ungemütlich. Meine Augenlider werden immer schwerer, nicht einmal ein Streichholz würde mehr dazwischenpassen. Den anderen Läufern geht es genauso. Mit ihren dunklen Augenringen und einem starren Gesichtsausdruck bewegen sie sich ganz langsam voran – fast wie Gespenster. Mit größter Müdigkeit schleppe ich mich zum Verpflegungspunkt Champex-Lac im Schweizer Wallis. 122 Kilometer, 6.000 Höhenmeter und gut drei Viertel des Rennens liegen jetzt hinter mir. Mir ist bewusst, dass ich meinem Körper sehr viel abverlange. Ich kenne aber auch meine Möglichkeiten und meine Grenzen. Ich weiß aus jahrelanger Erfahrung, wann es zu viel ist und wann ich meinem Körper eine Pause gönnen muss. Was sich an dieser Stelle für den Außenstehenden als abnormal und völlig ungesund anhört, ist für mich also durchaus kalkulierbar. „Nur“ noch ein Marathon mit 3.000 Höhenmetern liegt vor mir, denke ich. Wenn du schon über 120 Kilometer in diesem Terrain in den Beinen hast, kommt dir der Marathon im Vergleich dazu als nicht mehr so ehrfurchtgebietend vor. Wenn du es als Läufer bis Champex innerhalb des Zeitlimits geschafft hast, dann steigen die Chancen, auch das Ziel in Chamonix zu erreichen. Es ist kurz nach Mitternacht. Ich habe über drei Stunden Puffer auf das Zeitlimit. Verschiedenste Gedanken schießen mir durch den Kopf. „Wie verlaufen wohl die nächsten Stunden? Komme ich gesund und verletzungsfrei durch die Nacht? Es liegt nur noch ein Marathon vor dir“, sage ich mir immer wieder. Ich bewege mich körperlich wie mental nahe am Limit. Die Verlockung ist groß, sich im warmen Zelt einfach hinzulegen und für ein paar Stunden zu schlafen. Mein Körper schreit nach einem Bett, doch meine Willenskraft sehnt den Zieleinlauf herbei und sagt mir: „Auf, weiter geht’s!“
    Plötzlich finde ich mich auf meinem Allerwertesten wieder. „Bleib konzentriert“, sage ich mir. Eine kleine Unachtsamkeit hat mich wegrutschen lassen. „In ein paar Stunden wirst du im Ziel sein“, bestärke ich mich. Kurz vor dem Ziel eines so langen Laufes verletzungsbedingt auszuscheiden, ist besonders ärgerlich. Da hast du dich ein Jahr lang vorbereitet, hast sehr viel Zeit und Energie in das Projekt „Ultra-Trail Mont Blanc“ investiert und nur ein kurzer Augenblick der Unachtsamkeit kann alles zunichtemachen. Auch das ist Teil des Langstreckenlaufens. Vor mir erblicke ich einen Läufer, der sich nur noch humpelnd vorwärtsbewegt. Mit seinem rechten Fuß kann er fast nicht mehr auftreten, bei jedem Schritt verzieht er schmerzverzerrt sein Gesicht. „Wenn es sein muss, krabble ich auf allen Vieren über die Ziellinie“, gibt er mir in seinem akzentfreien Englisch zu verstehen. Die letzten Kilometer ziehen sich noch einmal gewaltig, Minuten kommen mir wie Stunden vor. Alle Gedanken fokussiere ich nur noch auf meinen Zieleinlauf. Ich will unbedingt durch die Ziellinie in Chamonix laufen.
    Dann habe ich nur noch zwei Kilometer bis zum Ziel. Ich lasse das Ortsschild von Chamonix hinter mir. Überall stehen Menschen, die mich anfeuern und meinen Namen rufen. Allez! Allez! Glücksgefühle durchströmen meinen ganzen Körper, jeder Meter ist jetzt ein einziger Genuss zu laufen. Dann die allerletzten Meter. Nach 42 Stunden und 30 Minuten stoppe ich meine Uhr. Ich habe es geschafft. Mit Worten kann ich nicht beschreiben, was in mir vorgeht. Tränen laufen mir über die Wangen. Ich bin endlich im Ziel. Damit geht für mich ein großer Traum in Erfüllung. Dieser Lauf hat sehr vieles in meinem Leben zum Positiven verändert. Als ich vor Jahren zum ersten Mal von diesem Rennen hörte, konnte ich mir die Dimensionen zunächst überhaupt nicht vorstellen. Ich weiß noch gut, wie ich einem Freund sagte, dass so etwas für mich niemals infrage kommt. Das sei einfach eine Nummer zu groß für mich. Doch nachdem ich mich sehr intensiv mit diesem Lauf beschäftigt hatte, über Monate und Jahre, änderte sich mein Vorstellungsvermögen. Dazu kamen Tausende von Trainingskilometern und viele
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher