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Ewig sollst du schlafen

Ewig sollst du schlafen

Titel: Ewig sollst du schlafen
Autoren: Lisa Jackson
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führte einen Hund von der Größe einer Ratte in einem affigen kleinen Pullover spazieren und zerrte an der Leine, da er immer wieder versuchte, an jedem einzelnen alten Grabstein zu schnuppern. Niemand lauerte hinter einem Busch, kein einziges Grab wies Spuren von Vandalismus auf, kein Auto mit getönten Scheibe fuhr auffällig langsam vorüber.
    »Haben wir eigentlich nichts Besseres zu tun?«, fragte Sylvie, bemüht, ihre Zigarette nicht ausgehen zu lassen. Sie sog heftig am Filter.
    »Nein, könnte man meinen.« Dennoch ließ Reed den Blick über trockenes Gras und verwitterte Grabsteine schweifen. Er dachte an die Fälle, die er im Moment bearbeitete. In einem ging es schlicht und ergreifend um häusliche Gewalt. Eine zwanzigjährige Ehefrau war endlich zu dem Schluss gekommen, dass das Maß voll war, und bevor sie noch ein Veilchen oder eine angeknackste Rippe riskierte, hatte sie ihren Mann im Schlaf kurzerhand erschossen. Ihr Anwalt plädierte auf Notwehr, und Reeds Aufgabe bestand darin, das Gegenteil zu beweisen – was nicht sonderlich schwierig war, ihm aber kein gutes Gefühl vermittelte. Ein anderer Fall betraf den Mord-plus-Selbstmord-Pakt eines Pärchens, in diesem Fall zweier schwuler Jungen, der eine siebzehn, der andere fast zwanzig Jahre alt. Der mit dem Finger am Abzug, der Jüngere der beiden, rang im Krankenhaus noch immer mit dem Tod. Falls er durchkam, drohte ihm eine Mordanklage. Der dritte dieser jüngsten Mordfälle war nicht so klar. Vor zwei Tagen war eine Leiche aus dem Savannah River gezogen worden. Nicht zu identifizieren; von der Frau war nicht viel übrig. Ein Lieschen Müller unter vielen. Niemandem schien sie zu fehlen, kein Hinweis in den Vermisstenakten auf eine Schwarze von, wie der Gerichtsmediziner sagte, etwa dreißig Jahren, Blutgruppe 0 positiv, zahlreiche Zahnbehandlungen, eine Geburt. Ja, er hatte weiß Gott Besseres zu tun. Doch als sein Blick über den Friedhof schweifte, der die letzte Ruhestätte von vor zweihundertfünfzig Jahren gestorbenen Einwohnern Savannahs war, da überkam ihn das beunruhigende Gefühl, dass der merkwürdige Brief nicht das Letzte war, was er von seinem Verfasser hörte.
    Eins, zwei, die ersten paar. Hör sie schreien, horch, wie sie sterben.
Was zum Teufel sollte das heißen? Er würde es zweifellos bald erfahren.
    »Ich hab ihn gesehen«, versicherte Billy Dean Delacroix aufgeregt. Im kalten Wind traten die Pickel in seinem Gesicht in noch kräftigerem Rot hervor. Er war fünfzehn und ein Draufgänger. »Der olle Bock ist da den Hügel rauf. Aber der kommt nicht weit. Ich hab ihn getroffen, ganz bestimmt. Er muss jeden Moment umfallen. Ich hab seinen weißen Schwanz gesehen, nu komm schon, Pres!« Billy Dean schoss davon wie eine Rakete, galoppierte so leichtfüßig wie ein erfahrener Spurenleser durchs dichte Unterholz, begleitet von dem schlappohrigen Hund seines Vaters. Prescott Jones, Billys Cousin zweiten Grades, sechs Monate älter und fünfundzwanzig oder dreißig Kilo schwerer, hatte Mühe, Schritt zu halten. Während er dem alten Wildwechselpfad folgte, der sich am Ufer des Bear Creek entlangwand, zerrten Brombeerranken an seiner alten Jeans und zerfetzten den Stoff, zerkratzten sein Gesicht und rissen ihm beinahe die Brille von der Nase. Ein Waschbär spähte durch seine schwarze Augenmaske, suchte schleunigst das Weite und versteckte sich tief im Dorngestrüpp. Am Himmel zog ein Falke gemächlich seine Kreise.
    Als Prescott die Hügelkuppe erreicht hatte, war er völlig außer Atem, er schwitzte unter seiner Jägerjoppe und dem alten Thermohemd seines Pas. Billy Dean, von Kopf bis Fuß in Tarnklamotten gekleidet, war nirgends zu sehen. Der hässliche rötliche Hund auch nicht.
    »Verdammte Scheiße«, brummte Prescott und rang keuchend nach Luft. Manchmal konnte Billy Dean so ein Arschloch sein, zum Beispiel wenn er ihm einfach davonrannte. Er hätte gern gewusst, ob Billy den Bock wirklich getroffen hatte. Wahrscheinlich war es doch nur ein Streifschuss, und sie konnten dem Mistvieh noch meilenweit hinterherrennen. Prescott entdeckte ein paar rote Flecken im dürren Gras am Weg, und das reichte aus für einen Sinneswandel. Also war das Reh doch schwer verwundet. Gut. Sehr lange hielt er dieses ziellose Gerase durchs Gestrüpp nämlich nicht mehr aus. Um die Wahrheit zu sagen: Prescott liebte alles an der Jagd, bis auf das eigentliche Stellen der Beute. O ja, es machte ihm genauso viel Spaß wie jedem anderen Jungen, ein
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