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Evies Garten (German Edition)

Evies Garten (German Edition)

Titel: Evies Garten (German Edition)
Autoren: K.L. Going
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am Kinn und zog die verkrumpelte Wegbeschreibung aus seiner Jackentasche. Er hatte sie schon seit Monaten. Bevor er das Grundstück zum ersten Mal besichtigt hatte, hatte er die Wegbeschreibung auf die Rückseite einer Einkaufsliste gekritzelt, die neben dem Telefon gelegen hatte. Milch, Eier, Erdnussbutter, Vollkornbrot, Route 71 Richtung Osten bis zur Ausfahrt Nr. 7, dann 70 Meilen auf Route 77 fahren …
    Evie zog ihre Knie bis unters Kinn. Sie fröstelte in der kalten Luft, denn es war schon Ende Oktober. Der Saum ihrer Hose hörte über den Knöcheln auf, und die Kälte biss in ihre nackte Haut. Die Hose war zu kurz, doch es war die letzte, die Mom ihr gekauft hatte – das letzte ihrer hübschen Sachen, das noch keine Grasflecken vom Herunterrollen auf den Hügeln hatte. Das Einzige, dem die Dornen noch keine Löcher gerissen hatten. Diese Hose würde sie nie wegwerfen, selbst dann nicht, wenn sie ihr längst zu klein geworden war. Evie hatte sogar versucht, mit dem Wachsen aufzuhören, aber das hatte nicht funktioniert. Ihre Beine waren mittlerweile so lang und dünn wie die eines Jungen.
    Evie zog sich die Socken so hoch wie nur möglich und zupfte am Saum ihres Wintermantels, damit er länger wurde. Dann betrachtete sie die Straßen, die nach links und rechts führten, doch beide sahen völlig gleich aus. Auf beiden Seiten war nichts zu sehen außer Bäumen und Nebel. Nebel so weit das Auge reichte, aber Evie meinte einen dichten Wald und zwei hohe Bergketten zu erkennen. Der Himmel war grau, und die Bäume an der Straße standen wie Wachsoldaten in Reih und Glied.
    Evies Vater öffnete die Wagentür auf seiner Seite und setzte sich auf den Fahrersitz.
    »Ich habe ›geradeaus‹ notiert«, sagte er und zeigte auf das zerknitterte Stück Papier. »Ich bin sicher, dass es bis zur Stadt geradeaus ging. Wirklich merkwürdig.«
    Evie drehte eine Haarsträhne in eine Locke, ließ sie los und die Strähne wurde wieder glatt. Bei Moms Haaren war das nie so gewesen. Sie seufzte, und sofort flog ein Schwarm Krähen auf, als hätte ihr Atem ihn aufgescheucht. Die Vögel stiegen spiralförmig hinauf in den Nebel, und die Luft war erfüllt von ihren rauen Schreien.
    Evie schauderte.
    »Wir sollten wieder nach Hause fahren«, versuchte sie es noch mal. »Wir müssen irgendwo falsch abgebogen sein.«
    Sie dachte an die lange Fahrt, die sie hinter sich hatten – von Michigan nach New York – und an jeder Abzweigung hatte sie gedacht, falsch, ganz falsch. Wie konnten sie sich nur so weit von Mom entfernen?
    Alle fanden es falsch, was Vater da machte. Alle . Sie hatte gehört, was die Leute sich zuflüsterten, und es war auch niemand gekommen, um ihnen beim Packen zu helfen oder sich zu verabschieden. Vater wollte es nicht. Nicht einmal seine eigene Mutter hatte vorbeikommen dürfen.
    »Ich brauche keine Hilfe von den Leuten, die hinter meinem Rücken über mich herziehen«, hatte er zu Evie gesagt. Aber es hatte sich schrecklich angefühlt loszufahren, während nur der Nachbar von nebenan aus dem Fenster winkte. Danach waren sie einen Highway nach dem anderen entlanggefahren und hatten eine Nacht in einem Hotel verbracht, das nach alten Kräckern roch und in dem es keinen Fernseher gab.
    Vater hatte so getan, als wäre alles ein Abenteuer, was gar nicht zu ihm passte. Doch Evie hatte nur missmutig aus dem Fenster gestarrt und dem Armaturenbrett gelegentlich einen Tritt verpasst. Abenteuer – das war etwas, das Mom unternommen hatte, nicht Vater, und ein Abenteuer begann auch nicht um halb sechs Uhr morgens in einem Lastwagen mit kaputtem Anlasser, der eine halbe Stunde brauchte, bis der Motor endlich lief. Menschenleere Straßen, die nirgendwohin führten, waren einfach kein Abenteuer.
    »Es ist alles ganz falsch«, murmelte Evie, doch Vater schüttelte den Kopf.
    »Nee«, sagte er, »es ist genau das Richtige.«
    Seine dunklen Augen blitzten auf, so wie immer, wenn es Probleme gab, die es zu lösen galt. An dem Tag, an dem er ihr erzählt hatte, dass er das Stück Land kaufen würde, hatten sie genauso gefunkelt. Nur sieben Monate nach Moms Tod war er eines Abends ganz aufgeregt beim Essen erschienen, weil irgendein alter Mann ihn angerufen hatte.
    »Fünfzig Morgen Land, Evie – und er verschenkt sie buchstäblich, weil die Obstbäume keine Früchte mehr tragen. Die Leute in der Gegend denken, dass die Bäume verflucht wurden. Wie kann man nur so abergläubisch sein!« Vater war in der Küche auf und ab
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