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Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)

Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)

Titel: Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)
Autoren: Roger Willemsen
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Stammeskulturen, und diese setzten sich auch musikalisch durch. Afghanistan war immer schon ein Durchgangsland gewesen, eines, das weniger produzierte als vielmehr durch Handel vertrieb, und so erwiesen sich die Grenzen nach Pakistan, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan, zum Iran immer auch durchlässig für die musikalischen Einflüsse.
    In manchen Regionen mischten sich so die Farben der persisch-arabischen Welt, die Stilrichtungen der höfischen Musik, des ekstatischen Tanzes, die rhythmusbetonte, Jagdszenen nachstellende Musik der Nuristani mit dem fröhlichen Gesang der Usbeken, dem chorischen Gesang der Krieger, den Hirtengesängen der Nomaden, die oft wie Hilferufe klingen. Für das ungeübte Ohr klingt diese Musik oft virtuos, aber eintönig. Wir hören die Variationen der Vierteltonschritte nicht, haben eine andere Empfindsamkeit für Rhythmisches, finden Wiederholungen ermüdend und sind stärker gewöhnt an größere kompositorische Bögen, weniger an die asyntaktischen kurzen Einheiten, die diese Musik bevorzugt.
    Peter Levi, der 1970 mit dem damals noch weitgehend unbekannten Bruce Chatwin durch Afghanistan reiste, erzählt: »Eines Abends fanden wir im Basar Musik. (…) Wir sahen ein Instrument wie eine langhalsige bauchige Gitarre und fragten, ob irgendjemand darauf spielen könne, doch hervorgezogen wurden dann ein Akkordeon und eine Trommel, die einen hohlen, dröhnenden Klang hatte und plötzlich auch mal donnernd knallte und klatschte. Jemand wurde dazu verleitet, zu einem Trommelstück zu tanzen, das, viele Male wiederholt, Ekstase ausdrückte; es wurde Schischkebab genannt. Später in der Nacht fanden wir zwei junge Männer, die sich endlos wiederholende Worte eines Schlagers sangen, und zwar mit ständig variierenden Harmonien, wobei sie einander den Kopf auf die Schulter legten und manchmal in Kichern ausbrachen; die Begleitung war eine zwölfsaitige Gitarre, die klang, als würfe man einen Hammer in kaltes Wasser. Die Worte des Liedes bedeuteten, das Kamel braucht Datteln, und die Erde braucht Blumen.«

    Das Instrument, das Levi hier meint, ist die Rubab, die Kerblaute, das verbreitetste Instrument Afghanistans, aus einem einzigen Stück Maulbeerholz gefertigt. Zwischen Rubab und Sitar bestehen Affinitäten, und ich habe immer wieder Kinder getroffen, die das Spiel dieser kompliziert scheinenden Instrumente virtuos beherrschten.
    Jeder Stein im Viertel Kharabat ist gesättigt von Geschichte. Es war König Amir Sher Ali Khan selbst, der den Musikern seines Hofes diesen Platz überließ. So hatten sie eine Heimat und konnten gleichzeitig mit Kutschen, später mit Limousinen rasch herbeigeholt werden, wenn der Regent Musik hören wollte. Die Eminenzen des klassischen Gesangs der afghanischen Musik erhielten den Titel »Ustad«, Meister. Sie exzellierten etwa in der Kunst des Ghasals, einer alten Lied- und Gedichtform, die heute vor allem unter Sufis, den islamischen Mystikern verehrt wird. Viele Stunden lang spielten die Musiker bei Hochzeiten und religiösen Festen ein Repertoire aus solchen Ghasals, Volksliedern und Tanzmusik. Dabei existiert die Musik in enger Verschmelzung mit der Poesie, deren Omnipräsenz auch auf den verbreiteten Analphabetismus zurückzuführen ist. Die mündliche Überlieferung ersetzt die Schrift.

    Die Mystik dieses Kulturraums vermittelte sich traditionell nicht asketisch, sondern über Musik und Tanz, sie fand im sinnlichen Genuss einen Weg in die Entgrenzung. Die Musik war also auch ein Medium für das Einswerden mit dem Göttlichen. So, und mit Hilfe der Lyrik der Dichter, Sufis und Mystiker wie Sanai, Rumi, Hafis, Aschqari, dem populärsten zeitgenössischen Dichter, konnte sich die Musik in Kharabat immer weiter verfeinern, und mancher Junge lernt noch heute früh die Beherrschung der ekstatisch wirkenden Tänze.
    Man täusche sich übrigens nicht: Musik und Dichtung werden vom Koran an keiner Stelle ausdrücklich untersagt. Musiker, Solisten in ihrer Kunst, wurden von alters her verehrt, man maß ihnen aber gesellschaftlich eher eine Position auf der untersten Stufe zu. Musik wird mit der Verführung, den sinnlichen Verlockungen in Verbindung gebracht, sie wird gesellig eingesetzt in den Teehäusern, bei öffentlichen und privaten Festen. Rein instrumentelle Darbietungen sind dabei seltener als die von Gesang begleiteten, in denen es oft um Liebe und Lust geht, ein Genre, in dem sich alle Völker Afghanistans immer wieder hervorgetan haben. Dazu kommen
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