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Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)

Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)

Titel: Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)
Autoren: Roger Willemsen
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humpelt ein tief verdüsterter Alter über die Straße und leckt ein »Capri«-Eis am Stiel. Dieses Bild gehört zu den Neuankömmlingen in der afghanischen Kultur.

    Obwohl sich diese Kultur in den letzten Jahren zunehmend auch im Land selbst entwickelt hat, befindet sie sich doch zu einem guten Teil im Exil. Kultur und Kunst werden innerhalb des Landes kaum gefördert. Zwar gibt es über sechzig lokale, überregionale und internationale Fernsehsender, zweihundert Rundfunkstationen, etwa dreihundert Zeitungen und Zeitschriften und sogar einige private Buchverlage, aber Autoren können ihre Bücher nur auf eigene Kosten verlegen. Zwar werden Filme produziert, doch fast ohne Mittel, und wer malt, sucht seinen Markt im Ausland oder in Botschaften, in Hotels, in der Chicken Street von Kabul oder dort, wo sonst sich ISAF-Soldaten aufhalten. Bisweilen bringen die Künstler ihre Werke auch auf die Militärbasen, weil die dort Stationierten ihre Areale nicht verlassen dürfen.
    Für die junge Generation aber besitzt vor allem die Musik Bedeutung. Wer denkt, sie sei immateriell, nur an Luftschwingungen und die Fertigkeit der Musiker gebunden, wird schon in der Hauptstadt eines Besseren belehrt. Zwar dringt hier überall aus Geschäften und Radios auch die Volksmusik des Landes – die in der Verwendung von Vierteltönen das Gebet des Muezzins assoziiert –, zugleich aber ist diese Musik gefährdet: ihre Quellentexte fehlen vielfach, Noten sind kaum zu erwerben, und vollständig lässt sie sich kaum mehr dokumentieren.

    Trotzdem gibt es Musikschulen. Es gibt talentierte Kinder, die hier im Rubab- oder Tabla-Spiel unterrichtet werden, und man begegnet diesen Kindern und jungen Erwachsenen noch in manchen Kulturzentren der Stadt. Im Musikleben Kabuls war die Folklore, aber auch die Musik der klassischen Tradition ursprünglich auf ein einziges Stadtviertel konzentriert. In Kharabat, dem legendären Quartier der Musiker, wurden in direkter Nachbarschaft zum Hindu- und Sikh-Viertel wie zum alten Königspalast seit zweihundert Jahren Musiker, Instrumentenbauer, Musiklehrer ausgebildet. Man tauschte sich aus, bewahrte das Bewusstsein für traditionelle Musik und die Dokumente dazu. Musiker, auch Schauspieler und später Künstler verschiedener Ausrichtungen ließen sich hier nieder.
    Der Name Kharabat ist zusammengesetzt aus den beiden persischen Wörtern »kharab« – »kaputt«, aber auch »faszinierend« – und »abad« für den Ort des Bleibens und Aufbauens. Früher dienten die hiesigen Tavernen als Treffpunkte für Dichter, Musiker, Tänzer und Philosophen. Poesie über die Schönheit der Geschlechter und den Wein war ebenso erlaubt wie Tanz und Musik, wenn auch verurteilt von orthodoxen Sittenwächtern.
    Kharabat galt deshalb immer als leicht verrufen. Früher sahen die Leute in den Bewohnern Menschen von geringerem Status. Als Frau mied man das Viertel. Um Musikstunden zu nehmen, ging man nur in die feinen Gegenden. Musikerinnen sollte es nicht geben, und auch das Singen fürs Radio war verpönt. Dennoch blieb die afghanische Musik im öffentlichen Leben allgegenwärtig, und natürlich sucht heute die Jugend vor allem den Anschluss an die Internationale der kommerziellen Musik.

    Gleichzeitig lebt die traditionelle Musik fort, und auch außerhalb von Kharabat war die Musik in Afghanistan eine tragende soziale Größe. In einem Land ohne Presse fand ein erheblicher Teil der Kommunikation durch musikalische Botschaften und Gedichte statt. In fast jedem Haus hing ein Instrument, nach der Feldarbeit setzte man sich und spielte. Kinder, die die Tiere hüteten, vertrieben sich auf Instrumenten wie der Flöte oder der Pferdekopfgeige die Zeit. Selbst im Ramadan brachte man in den Wirtshäusern traurige Legenden zum Vortrag oder lauschte den Geschichtenerzählern, die ihre Monologe musikalisch begleiteten oder sangen. Überall fand sich Raum für Improvisation, und wo der Text herrschte, passte die Musik sich an.
    Der Großteil dieser Musik war einstimmig. Am Salang-Pass oder im Pandschir-Tal aber fand man auch sparsame Formen der Mehrstimmigkeit, wo ein Sänger eine Form suchte, sie immer wiederholte, ein zweiter, ein dritter sie variierte. Der Rhythmus war entscheidend, die Trommel wichtig, die notfalls durch Klatschen, Pochen oder Klopfen ersetzt wurde. Dabei lagen die Singstimmen oft an der oberen Grenze des Stimmumfangs.
    Auf der einen Seite hatte das Land immer auch starke Binnengrenzen durch die verschiedenen
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