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Es stirbt in mir

Es stirbt in mir

Titel: Es stirbt in mir
Autoren: Robert Silverberg
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in der Schule ständig Ärger stiftete, schickte man ihn zu Dr. Hittner, dem amtierenden Schulpsychiater. Es handelte sich um eine teure Privatschule in einer ruhigen, baumbestandenen Straße im Park Slope-Viertel von Brooklyn, deren Programm sozialistisch-progressiv mit einer gefühlsduseligen, pädagogischen Basis von aufgewärmtem Marxismus, Freudianismus und John Deweyismus war, und der Psychiater, ein Spezialist für seelische Störungen bei Kindern der Mittelklasse, kam jeden Mittwochnachmittag, um sich mit einem der Problemkinder zu befassen. Diesmal war David an der Reihe. Seine Eltern waren natürlich einverstanden, weil sie sich große Sorgen über sein Betragen machten. Alle waren sich einig darin, daß er ein Überflieger war, frühentwickelt, mit dem Leseverständnis eines Zwölfjährigen und, wie die Erwachsenen fanden, beinahe beängstigend klug. Leider war er im Unterricht aber auch nicht zu bändigen, frech und unverschämt; die Arbeit in der Klasse langweilte ihn zu Tode; seine einzigen Freunde waren die Außenseiter unter den Schülern, die er rücksichtslos verfolgte; die meisten Kinder haßten ihn, und die Lehrer fürchteten seine Unberechenbarkeit. Eines Tages stellte er im Korridor einen Feuerlöscher auf den Kopf, nur um zu sehen, ob er wirklich Schaum speien würde. Er tat es. Er brachte Vipern mit in die Schule und ließ sie in der Klasse frei. Er imitierte Schulkameraden und sogar Lehrer mit grausamer Präzision. »Dr. Hittner möchte sich nur ein bißchen mit dir unterhalten«, erklärte ihm seine Mutter. »Weil du ein ganz besonderer Junge bist und er dich besser kennenlernen will.« David wollte nicht und machte ein Riesentheater um den Namen des Psychiaters. »Hitler? Hitler? Mit Hitler will ich aber nicht sprechen!« Das war im Herbst 1942, und dieses kindische Wortspiel wohl unvermeidlich, aber er klammerte sich mit enervierender Hartnäckigkeit daran. »Dr. Hitler will mit mir sprechen. Dr. Hitler will mich kennenlernen.« Und seine Mutter berichtigte: »Nein, David, er heißt Hittner – Hittner mit ›n‹.« Er ging. Forsch marschierte er in das Zimmer des Psychiaters, und als Dr. Hittner gütig lächelnd sagte: »Hallo, David!« hob David stramm den rechten Arm und schnarrte laut: »Heil Hitler!«
    Dr. Hittner lachte. »Da hast du aber den Falschen erwischt«, sagte er freundlich. »Ich heiße Hittner, Hittner mit ›n‹.« Wahrscheinlich war er an diesen dummen Scherz gewöhnt. Er war sehr groß und dick und hatte ein langes Pferdegesicht mit einem breiten, fleischigen Mund und einer hohen, gewölbten Stirn. Hinter der randlosen Brille zwinkerten wasserblaue Augen. Seine Haut schimmerte weich und rosig, er duftete frisch und gab sich die größte Mühe, freundlich und nett wie ein großer Bruder zu sein. David jedoch spürte genau, daß Dr. Hittners Brüderlichkeit keineswegs aufrichtig war. Das spürte er übrigens bei den meisten Erwachsenen: Sie lächelten dauernd, innerlich aber dachten sie Dinge wie: Was für ein fürchterlicher Bengel, was für ein unheimliches Kind! Sogar seine Eltern dachten das manchmal. Er begriff nicht, warum Erwachsene mit ihrem Gesicht dies sagten und mit ihren Gedanken das, aber er hatte sich daran gewöhnt. Inzwischen erwartete er nichts anderes und akzeptierte es gelassen.
    »Und nun wollen wir ein bißchen spielen, nicht wahr?« schlug Dr. Hittner lächelnd vor.
    Aus der Westentasche seines Tweedanzugs zog er eine kleine Plastikkugel, die an einer Metallkette hing. Er zeigte sie David, dann zog er an der dünnen Kette, und die Kugel zerfiel in acht bis neun Teile von verschiedenen Farben. »Paß gut auf, ich werde sie jetzt wieder zusammensetzen«, sagte Dr. Hittner. Mit seinen dicken Fingern fügte er die Einzelteile geschickt ineinander. Dann zerlegte er sie wieder und schob sie zu David hinüber. »Jetzt bist du an der Reihe. Ob du sie wohl auch zusammensetzen kannst?«
    David erinnerte sich, daß der Doktor zunächst das E-förmige weiße Teil genommen und das D-förmig blaue Teil hineingepaßt hatte. Dann kam das gelbe Teil, aber wo das hinpaßte, wußte David nicht mehr. Sekundenlang saß er ratlos da, bis Dr. Hittner ihm liebenswürdigerweise ein gedankliches Bild der richtigen Handgriffe übermittelte. Von da an ging alles kinderleicht. Zweimal noch blieb er stecken, las die Lösung aber jedesmal in den Gedanken des Doktors. Warum behauptet er, mich zu testen, wenn er mir so viele Hinweise gibt? dachte David. Was will er damit beweisen?
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