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Es geht uns gut: Roman

Es geht uns gut: Roman

Titel: Es geht uns gut: Roman
Autoren: Arno Geiger
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ihren Enkeln nie einen Vorwurf gemacht habe, daß sie sich nicht blicken ließen, und von Ingrid Sterk, seiner Mutter, als diese noch ein Kind war, bildhübsch, und wie schade, daß Ingrid so jung gestorben sei, und daß die Frage, weshalb Ingrid nicht einfach aus dem Armreif geschlüpft ist, sich nie geklärt habe (no na).
    Philipp tut sein möglichstes, Frau Puweins Mitteilungsbedürfnis zu zügeln. Sie ist grausam ausführlich in ihren Erinnerungen. Während sich in ihrem Gehirn die verschiedensten Zusammenhänge und nur selten Spuren der Verflüchtigung finden, überlegt Philipp, warum er diese gattungsmäßig typischen, eher durchschnittlich anmutenden Kindheitsepisoden nicht hören will und warum sie ihm beliebig vorkommen, zufällig, irgendwie beschämend. Frau Puwein berichtet weitschweifig, wie Ingrid sich als Elfjährige zum Ziel gesetzt habe, die komplette Besetzung des Schönbrunner Tiergartens aus Kastanien und Zahnstochern nachzubilden, und weiter, daß sie, Ingrid, zu dieser Zeit bis über beide Ohren in ihren, Frau Puweins, Sohn Manfred verliebt gewesen sei, den Fredl.
    – Sie hat ihm Liebesbriefe geschrieben. Der Fredl sagt, einen der Briefe besitze er noch.
    Das geht Philipp endgültig zu weit. Ehe Frau Puwein sich in weiteren Details ergehen kann, nutzt er die von einem sentimentalen Erinnerungslachen Frau Puweins markierte Unterbrechung, um das Gespräch auf einen anderen Gegenstand zu lenken. Konkret: Er erkundigt sich nach der Ganggenauigkeit der Pendeluhr, die er Frau Puwein überlassen hat.
    Frau Puwein, so kommt es ihm vor, glaubt, er wolle die Uhr zurückfordern. Sie gibt ausweichende Antworten, das spiele keine Rolle, ein paar Minuten vor oder zurück, mehr oder weniger, früher oder später, was mache das schon. Gleich darauf verabschiedet sie sich höflich unter dringendem Hinweis auf das Wetter, das schlecht zu werden drohe. Tatsächlich fahren einige schwere Wolken heran.
    – Machen Sie sich keine Sorgen, das zieht trocken vorüber, sagt Philipp.
    Frau Puwein und Herr Prikopa argumentieren mit Gründen, die bis zum Ende der Woche ausreichen würden, um sich als entschuldigt zu betrachten. Sie haken sich einer beim andern ein, streben schlurfend, ohne sich ein einziges Mal umzusehen, dem Ende der Auffahrt zu und verschwinden durch das Tor und hinter der Mauer.
    Philipp bleibt mit Steinwald und Atamanov allein. Da stehen sie: eins, zwo, drei. Und Philipp denkt, so sehen keine intakten Persönlichkeiten aus. Man muß nur genau hinsehen, dann sieht man, das ist keine Unabhängigkeitserklärung, das ist nicht die Rettung von drei Leben, das ist ein Fiasko, das sind drei traurige Gestalten mit der grundlosen Hoffnung, daß es Hoffnung gibt, in der schmerzhaften Erkenntnis, daß nichts geblieben ist, wie es war, und auch nichts bleiben soll, wie es ist.
    – Nehmt ihr mich mit? Wenn ihr übermorgen fahrt? fragt Philipp im vagen Gefühl, daß die Gelegenheit jetzt, bei allem Stolz und bei aller Scham, die er empfindet, halbwegs erträglich ist. Gleich wird es anfangen zu regnen, ganz so, wie Johanna es vorhergesagt hat. Die Sterne, nach denen sich die Schiffe richten, sind vom Himmel entfernt. Wind kommt auf, die Brise, die alles verändern kann. Es blitzt schon. Glutfäden stürzen, sich verästelnd, aus den Wolken, deren Bäuche gelbe Falten zeigen. Sekunden später fällt das Donnergrollen wie ein Haufen Steine in den Nachbarsgarten, und in Philipps Garten vibriert das Grollen im Boden nach.
    Steinwald schaut Atamanov an, sie wechseln ein paar Worte, die Philipp nicht versteht. Philipp stürzt ohne jeden Halt in eine Leere, die nichts Erleichterndes hat. Er fühlt sich einsam, und sowenig er es zugeben kann: er ist es auch. Ein Autoscheinwerfer kriecht in der Einfahrt vorbei. Philipp schaut in diese Richtung. Schon ist auch vom Geräusch des Wagens nichts mehr zu hören. Die Dunkelheit zieht sich wieder zusammen, ist jetzt dichter als zuvor. Steinwald und Atamanov beratschlagen sich noch immer. Philipp steckt die Hände in die Hosentaschen, um gewappnet zu sein. Die beiden nicken einander zu. Für eine Sekunde glaubt Philipp, den Anlaß, weshalb Steinwald und Atamanov nicken könnten, bereits wieder vergessen zu haben. Sie nicken und drucksen heraus:
    – Oh, wir wußten nicht, ja, ja, natürlich, wir hätten nicht gedacht.
    – Heißt das ja?
    – Ja.
    Er würde mitfahren können, wahrhaftig. Und obwohl er sich aufdrängen mußte, um diese Gunst zu erringen, freut er sich oder ist
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