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Es geht uns gut: Roman

Es geht uns gut: Roman

Titel: Es geht uns gut: Roman
Autoren: Arno Geiger
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Klo, da war Ingrid bereits siebzehn oder achtzehn. Alma streichelte Ingrids Kopf und drückte ihn gegen ihren Bauch, es war wie in alten Zeiten.
    Ja, die alten Zeiten. Die glorreichen alten Zeiten, in denen man so leicht versackt.
    Und jetzt?
    Jetzt stillen die Rosen ein letztes Mal in diesem Jahr ihren Durst.
    Jetzt knickt der Wind die Blumen auf den Gräbern, sofern die Blumen nicht aus Plastik sind.
    Dann ein Donnerpoltern, ganz nah, als fielen alle Bilder von den Wänden, und die Menschen aus den Bildern und das Geißlein aus der Uhr.
    In der Schule hat Alma gelernt, daß sich die Farben eines rasch rotierenden Windrads im menschlichen Auge vermischen, blau und gelb zu grün. Wenn jedoch bei völliger Dunkelheit ein Blitz das rotierende Windrad für eine Hundertstelsekunde erhellt, wird das Windrad in Ruheposition gesehen, die Farben klar voneinander abgegrenzt. Aus demselben Grund scheinen die heimeilenden Vögel in der Luft erstarrt zu sein, wenn der Blitz sie erleuchtet. Ganz ähnlich frieren die Dinge in der Erinnerung ein; als würde die Erinnerung das Farbengemisch der Vergangenheit in seine Bestandteile zerlegen und einzelne Farben herauslösen, als würde die Erinnerung die Vögel (Tauben), die vor Jahren in eilender Bewegung waren, für einen Augenblick ans Gewitter nageln.
    Der Wind hat am Fenster gerissen, das Fenster hat am Haken gerissen, der Haken hat an der Ringschraube gerissen, die Ringschraube hat am Holz gerissen, das Holz hat nachgegeben, und die Ringschraube ist aus der Wand gefallen. Eine Weile dreht sich das Fenster lose in den Luftströmungen über dem westlichen Rand der Bundeshauptstadt, Wien, unabsetzbare Königin an der Donau. Die Angel quietscht, das Fenster wendet sich ein Stück zu dem in schwerer Müdigkeit harrenden Kinderspielzeug, zu den Briefen, denen der Adressat abhanden gekommen ist. Das Fenster wendet sich nach vorn, zurück, nach vorn. Dann schlägt es in einer Böe an die Wand, und das Glas springt in Scherben aus dem Rahmen heraus.
    Alma stellt sich ein Glas Fernet aufs Nachtkästchen (auf daß wir nicht alleine sterben müssen). Sie zieht ihre Kleider aus, schlüpft in ein frisches Nachthemd, das mit den Marienkäfern. Sie schiebt sich unter die schwere Decke, nimmt den Grünen Heinrich vom Nachtkästchen und richtet die Lampe so, daß der Lichtkegel genau auf die aufgeschlagenen Seiten fällt.
    Wie sie bloß hierher gekommen ist? Es ist verrückt. Sie kann es nicht fassen. Wie bloß? Es ging alles so schnell, nicht lange gefackelt, einmal umgedreht, einmal hingeschaut, schon vorbei.
    [Applaus. Ende.]
    In dem Zimmer hängt eine Federzeichnung an der Wand, ein Blatt im DIN-A3-Format, das der Enkel, Philipp, der Großmutter geschickt hat, der Datierung nach, als er zwölf war. Unten rechts, in einer allürenhaften Mischung aus Groß- und Kleinbuchstaben, hat er einen Titel notiert: Die Füße meiner Schwester Sissi . Tatsächlich bietet das Blatt nur wenig mehr: Senkrecht ins Bild fallende Glockenhosen, der obere Rand knapp über Kniehöhe, das linke Knie von einer Schraffur aus vier Strichen und einem Querstrich markiert. Unterhalb der Hosen gerippte Socken, entlang deren man ein gutes Stück weit in die Hosenröhren hineinsehen kann. Dann stumpfnasige Schuhe, hauptsächlich die Sohlen. Der linke Schuh liegt beinahe waagrecht nach seiner Seite, während der rechte, aufrecht stehend, leicht nach vorn und ein wenig zur anderen Seite kippt, woran, wie auch an der dreispitzförmigen Öffnung der Hosenröhren, zu erkennen ist, daß Sissi während des Zeichnens auf dem Rücken gelegen ist, vielleicht lesend, auf ihrem Bett, vielleicht schlafend, auf Philipps Bett, und deshalb die Schuhe.
    [Applaus. Ende.]
    Eins noch – was Alma sich?
    Sie fragt sich, warum man der abenteuerlichen Idee von Gott und dem ewigen Leben mehr Wahrscheinlichkeit zuspricht als der sehr viel einfacher, wenn auch nicht leichter zu denkenden Variante, daß es mit dem Tod aus und vorbei ist und daß wir (wir) nicht wieder auf die Füße fallen. Schon im Leben immer der Wunsch, auf die Füße zu fallen, und noch zum Tod hin das sich Klammern an die durch nichts bestärkte Hoffnung, daß es ewig so weitergehen wird.
    Daß es in ihrer Kindheit hieß, an ihr sei ein Bub verlorengegangen. Ja?
    Wie die Tivoligasse damals ausgesehen hat? Eine breite, graue Straße, grau, grau, holprig und staubig.
    Moment –.
    Der 21. Februar 1945. Als viele der wertvollen Vögel aus dem schwer getroffenen Tiergarten entkommen
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