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Erwachen

Erwachen

Titel: Erwachen
Autoren: Julie Kenner
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dastehen, als ich ohnehin schon war.
    Und der Verwesungsgestank geplatzter Träume hing ganz bestimmt an mir. Mein Scheitern war gepflastert mit Klischees: mit miesen Jobs, dem Verkauf von ein paar Tütchen Hasch oder Ecstasy nebenher, hier und da einer geklauten Brieftasche, wenn ich glaubte, der Besitzer könne den Verlust des Geldes verschmerzen, mit raubkopierten DVDs, die ich unter der Hand verscherbelte, und sonst noch allerhand Scheiß. Und ja, ich habe sogar mit einigen Typen geschlafen, die ich nicht ausstehen konnte, weil ich dachte, ich könnte sie dazu bringen, eine Leihgabe in ein Geschenk umzuwandeln.
    Ich bin darauf nicht stolz, aber ich habe getan, was ich tun musste. Und ich habe dafür gesorgt, dass wir immer ein Dach über dem Kopf hatten - selbst als Joe nichts mehr tat, als die Wände anzustarren und sich am Arsch zu kratzen.
    Trotzig starrte ich Clarence durch den Nebel zerbrochener Träume an. »Ich bin keine Ärztin. Nicht mal annähernd.«
    »So, so. Du hast vielleicht keinen Äskulapstab am Ärmel, aber du bist losgezogen, um Rose zu schützen.« Er beugte sich vor, der Blick so verständnisvoll, dass ich am liebsten geweint hätte. »Du hast getan, was du tun musstest, damit sie es nicht mitbekam. Du hast es getan, obwohl du wusstest, dass es letztlich nicht richtig war.«
    Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen und erinnerte mich an das Gefühl, als ich mit der Pistole in der Hand zu der Souterrainwohnung unterwegs war, die Johnson gemietet hatte. Ich hatte gewusst, dass ich sterben würde. Versteht mich nicht falsch: Natürlich hatte ich gehofft, dass es nicht so weit kommen würde, aber die Chancen dafür standen nicht so toll. Und es war mir egal. Ich war bereit, in diese Schwärze, das Nichts, einzutauchen, die mich als Kind so geängstigt hatte. Ich war dazu bereit - solange ich ihn mitnehmen konnte.
    Mit anderen Worten: Ich hatte die feste Absicht gehabt zu töten.
    »Na also.«
    Aber das hieß nicht, dass mir irgendetwas klarer wurde. Ich verstand immer noch nicht, warum ich hier war. Warum ich eine zweite Chance bekommen hatte. Ich kapierte es einfach nicht. Beim besten Willen nicht.
    Clarence seufzte. »Komm schon, Lily! Du bist bestimmt nicht hier, weil du eine Heilige bist. Eine Heilige bräuchte nämlich keine Erlösung. Nein, Mädchen, den zweiten Versuch hast du deinen Absichten zu verdanken. Was du für deine Schwester getan hast. Einfach so loszuziehen und dich einem solchen Ungeheuer zu stellen - das war schon ein verdammt großes Opfer, zu dem du bereit warst.«
    Ich schaute ihn an und begriff allmählich.
    »Das ist nichts anderes als damals, als du Medizin studieren wolltest - nichts anderes, als du losgezogen bist, um Rose zu beschützen. Nur beschützt du diesmal die ganze Welt. Also, hier ist mein Angebot, Kindchen: Du rettest uns vor den Dämonen, vor dem Feind. Vor den Geißeln der Erde, die alles Gute auslöschen, die Menschheit vernichten, die Hölle ans Licht des Tages und Verwüstung über das Land bringen wollen.«
    Sein Gesicht wurde lebhaft, und er deutete mit dem Finger auf mich. »Du, Lily, du wirst ihre Bemühungen zunichtemachen! Wie ein Körperpanzer beschützt du die gesamte menschliche Rasse. Du bist die Geheimwaffe, die dafür kämpft, dass auf der Welt alles wieder seine Ordnung hat. Und deine erste Aufgabe wird sein, die Neunte Pforte zu sichern.«
    Ich schluckte und versuchte zu verhindern, dass mein Gesichtsausdruck meine Empfindungen preisgab. Was allerdings lächerlich war, wenn man bedenkt, dass der kleine Drecksack meine Gedanken lesen konnte. Aber wisst ihr, was? Es war mir ziemlich egal. Denn tief im Innern spürte ich etwas, etwas, das ich lange Zeit vermisst hatte. Hoffnung.
    Mehr noch: Ich fühlte mich wie etwas Besonderes. Sie wollten mich, Lily Carlyle. Sie hatten mich dem Tod von der Schippe geholt, weil ich für sie etwas Besonderes war.
    Wenn das nicht cool war …
    Nur …
    Ich kaute auf meiner Unterlippe herum.
    »Was ist?« Clarence kniff die Augen zusammen.
    »Du hast von einer Prophezeiung gesprochen. Bist du dir sicher, dass ich gemeint bin?«
    »Du brauchst mehr Vertrauen zu dir selbst, Kindchen! Und zu uns.« Er deutete mit dem Finger auf mich. »Glaub mir, die Prophezeiung weist auf dich. Die einzige Frage ist jetzt nur noch: Bist du mit von der Partie?«
    Ich fuhr mir mit den Fingern durchs Haar und blieb hängen; ich war die Länge noch nicht gewohnt. Ich weiß nicht, warum ich zögerte. Es war völlig
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