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Erstes Erlebnis: Vier Geschichten aus Kinderland

Erstes Erlebnis: Vier Geschichten aus Kinderland

Titel: Erstes Erlebnis: Vier Geschichten aus Kinderland
Autoren: Stefan Zweig
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brüsk von ihm abwendet, ballt sich seine Faust, und er fühlt, er könnte sie ruhig niederschlagen.
    »Was hast du denn, Bob, du bist ja ganz blaß«, sagt da plötzlich eine Stimme. Es ist die kleine Elisabeth, Margots Schwester. In ihren Augen glänzt ein warmes, weiches Licht, aber er merkt es nicht. Er fühlt sich irgendwie ertappt und sagtwütend: »Laßt mich doch einmal in Ruh mit eurer verfluchten Besorgnis.« Und bereut es schon. Denn Elisabeth wird sehr blaß, wendet sich ab und sagt, mit Tränen in der Stimme: »Du bist aber schon mehr als merkwürdig.« Alle sehen ihn böse und fast drohend an, und er selbst fühlt seine Inkorrektheit. Aber da kommt, ehe er sich noch entschuldigen kann, eine harte Stimme, blank und scharf wie eine Messerschneide, Margots Stimme über den Tisch herüber: »Überhaupt finde ich Bob für seine Jahre sehr ungezogen. Man tut unrecht, ihn als Gentleman oder nur als Erwachsenen zu behandeln.« Margot sagt das, Margot, die ihm noch gestern nachts ihre Lippen geschenkt. Er fühlt alles um sich kreisen, einen Nebel vor seinen Augen. Ein Zorn packt ihn an. »Du mußt es ja wissen, gerade du!« sagt er mit einer ganz bösartigen Betonung und steht auf. Hinter ihm fällt der Sessel um von der jähen Bewegung, aber er wendet sich nicht mehr.
    Und doch, so unsinnig es ihm selbst scheint, abends steht er wieder unten im Garten und betet zu Gott, daß sie kommen möge. Vielleicht war auch dies nur Verstellung und Trotz, nein, er wollte sie nicht mehr fragen und nicht mehr quälen, wenn sie nur käme, wenn er nur wieder das erbitterte Begehren dieser weichen, feuchten Lippen an seinem Mundespüren dürfte, das alle Fragen versiegelt. Die Stunden scheinen eingeschlafen zu sein, ein träges schlaffes Tier liegt die Nacht vor dem Schloß: irrsinnig lang ist die Zeit. Wie von spöttelnden Stimmen beseelt scheint ihm das leise Gesurr im Grase ringsum, wie höhnische Hände diese Äste und Zweige, die sich leise bewegen und mit ihrem Schatten spielen und dem leichten Funkeln des Lichts. Alle Geräusche sind verworren und fremd, schmerzhafter prickeln sie als die Stille. Einmal schlägt drüben im Land ein Hund an, und einmal schwirrt eine Sternschnuppe quer über den Himmel und stürzt irgendwo hinter das Schloß. Immer heller scheint die Nacht zu werden, immer dunkler der Bäume Schatten über dem Weg und immer verworrener dies leise Tönen. Dann hüllen wandernde Wolken wieder den Himmel in ein mattes, schwermütiges Dunkel. Schmerzhaft fällt diese Einsamkeit über das fiebernde Herz.
    Der Knabe geht auf und ab. Immer heftiger und schneller. Manchmal schlägt er zornig gegen einen Baum oder zerreibt die Rinde zwischen den Fingern, zerreibt sie so zornig, daß sie bluten. Nein, sie wird nicht kommen, er hat es ja gewußt, aber doch will er es nicht glauben, denn dann kommt sie ja nie, nie mehr wieder. Es ist seines Lebensbitterster Augenblick. Und so leidenschaftlich jung ist er noch, daß er sich heftig hinwirft in das feuchte Moos, die Hände in die Erde verkrallt, Tränen über den Wangen und leise, erbittert schluchzend, wie er nie als Kind geweint hat und nie mehr wird weinen können.
    Da plötzlich weckt ihn ein leises Knacken im Gehölz aus seiner Verzweiflung. Und wie er aufspringt und mit blinden, tastenden Händen nach vorne, da hält er – und wunderbar ist dieser jähe, warme Anprall an seine Brust – wieder den Körper in den Armen, von dem er wild geträumt. Ein Schluchzen schäumt aus seiner Kehle, sein ganzes Sein ist gelöst in einen unerhörten Krampf, und er preßt diesen hohen, vollen Leib so herrisch an sich, daß von den fremden und stummen Lippen ein Stöhnen bricht. Und wie er sie unter seiner Kraft stöhnen fühlt, da weiß er zum erstenmal, daß er Herr ist über sie und nicht wie gestern, wie vorgestern, die Beute ihrer Laune; ein Verlangen packt ihn, sie zu quälen für die Qual, die er durch hundert Stunden geschleppt, sie zu züchtigen für ihren Trotz, für diese verächtlichen Worte heute abend vor den andern, für das lügnerische Spiel ihres Lebens. Haß ist in seine brennende Liebe zu ihr so unlösbar verflochten, daß diese Umschlingung mehr ein Kampf istals eine Zärtlichkeit. Er klemmt ihre schmalen Handgelenke, daß sich ihr ganzer keuchender Körper zitternd mitwindet, und reißt sie dann wieder so stürmisch an sich, daß sie sich nicht rühren kann und nur immer dumpf stöhnt, er weiß nicht, ob in Lust oder Schmerz. Aber kein Wort kann er ihr
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