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Erstes Erlebnis: Vier Geschichten aus Kinderland

Erstes Erlebnis: Vier Geschichten aus Kinderland

Titel: Erstes Erlebnis: Vier Geschichten aus Kinderland
Autoren: Stefan Zweig
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das Gleichgewicht, und wirbelnd stürzt er hinab.
    Ein leiser dumpfer Schlag fällt auf den Rasen wie von einer schweren Frucht. Oben beugt sich, beunruhigt blickend, eine Gestalt zum Fenster hinaus, aber das Dunkel ist reglos und still wie ein Teich, der einen Ertrinkenden in seine Flut genommen. Bald löscht oben das Licht, und der Garten geistert wieder im unsichern Dämmerglanz über den schweigenden Schatten.
    Nach ein paar Minuten erwacht der Gestürzte aus seiner Betäubung. Sein Blick starrt eine Sekunde lang fremd nach oben, wo ein blasser Himmel mit ein paar irren Sternen kalt auf ihn niedersieht. Aber dann fühlt er einen jäh zuckenden, furchtbaren Schmerz im rechten Fuß, einen Schmerz, der ihn fast aufschreien läßt bei der ersten leisen Bewegung, die er jetzt versucht. Da weiß er plötzlich, was ihm geschehen ist. Und weiß auch, er darf hier nichtliegen bleiben unter Margots Fenster, darf keinen um Hilfe bitten, nicht rufen oder sich laut bewegen. Von der Stirne tropft Blut, er muß im Rasen auf einen Kiesel oder ein Holzstück hingeschlagen haben, aber das wischt er mit der Hand weg, nur so, daß es ihm nicht über die Augen rinnt. Und dann versucht er, ganz auf die linke Seite gekrümmt, mit den in die Erde sich tief einkrallenden Händen langsam sich vorwärtszuziehen. Jedesmal, wenn das gebrochene Bein berührt oder nur erschüttert wird, zuckt ein Schmerz auf, daß er fürchtet, wieder ohnmächtig zu werden. Aber langsam schleift er sich weiter, eine halbe Stunde fast bis zur Treppe hin, und schon fühlt er seine Arme lahm werden. Kalter Schweiß mischt sich auf seiner Stirne mit dem zäh niedertröpfelnden Blute: das Letzte, das Ärgste ist noch zu überwinden, die Treppe, die er sich ganz langsam, unter wildesten Schmerzen hinaufquält. Wie er jetzt oben ist und das Geländer zitternd faßt, röchelt sein Atem. Wenige Schritte schleppt er sich noch zur Tür des Spielsaals hin, wo er Stimmen hört und Licht blinken sieht. An der Klinke zerrt er sich empor, und plötzlich, wie geschleudert, stürzt er mit der nachgebenden Tür in das hellerleuchtete Zimmer.
    Furchtbar muß sein Anblick sein, wie er dahereinstürzt, Blut über dem Gesicht, mit Erde beschmiert und sofort wie ein Klumpen zu Boden fallend, denn die Herren springen wild auf, Stühle poltern übereinander, alles drängt hin, um ihm zu helfen. Vorsichtig trägt man ihn auf das Sofa. Er kann noch gerade etwas lallen, er sei die Treppe hinabgestürzt, wie er in den Park gehen wollte, dann fallen plötzlich schwarze Schleifen vor seinen Augen nieder, zittern hin und her und umwinden ihn ganz, daß seine Sinne schwinden und er von nichts mehr weiß.
    Ein Pferd wird gesattelt, und einer reitet in den nächsten Ort um einen Arzt. Gespenstig belebt sich das aufgeschreckte Schloß: Lichter zittern wie Johanniskäfer in den Gängen auf, Stimmen ftüstern und fragen aus den Türen heraus, die Diener kommen scheu und schlaftrunken, und endlich trägt man den Ohnmächtigen hinauf in sein Zimmer.
    Der Arzt konstatiert einen Beinbruch und beruhigt alle, daß keine Gefahr sei. Nur lange müsse der Verunglückte reglos liegen bleiben im Verband. Wie man es dem Knaben sagt, lächelt er matt. Es trifft ihn nicht schwer. Denn es ist schön so zu liegen, lange allein, ohne Lärm und Menschen, in einem hellen, hohen Zimmer, an das die Bäume mit den Wipfeln heranrauschen, wenn man träumenwill von einer, die man liebt. Es ist süß, alles so in Ruhe zu überdenken, leise Träume zu träumen von der einen, ungestört zu sein von allen Verrichtungen und Pflichten, traulich allein mit diesen zarten Traumbildern, die an das Bett treten, wenn man die Lider für einen Augenblick schließt. Die Liebe hat vielleicht keine stillschöneren Augenblicke als die dieser blassen, dämmernden Träume.
    Noch ist der Schmerz stark in den ersten Tagen. Aber es ist ihm eine eigentümliche Wollust beigemengt. Der Gedanke, daß er um Margots, um der Geliebten willen, den Schmerz erlitten habe, gibt dem Knaben ein sehr romantisches und fast überschwengliches Selbstgefühl. Er hätte gerne eine Wunde gehabt, denkt er sich, blutrot über das Gesicht, daß er sie stet und offen hätte tragen können wie ein Ritter die Farben seiner Dame; oder es wäre schön gewesen, überhaupt nicht mehr zu erwachen, sondern unten liegen zu bleiben, zerschmettert vor ihrem Fenster. Und schon träumt er weiter, wie sie dann morgens erwacht, weil Stimmen unter ihrem Fenster lärmen und
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