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Erstes Erlebnis: Vier Geschichten aus Kinderland

Erstes Erlebnis: Vier Geschichten aus Kinderland

Titel: Erstes Erlebnis: Vier Geschichten aus Kinderland
Autoren: Stefan Zweig
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schroffe Margot oder die kleine Elisabeth? Er wagt sich gar keine von ihnen zu wünschen. Im geheimsten verlangt er, keine möge es sein oder er möchte es nicht wissen. Aber jetzt reißt ihn das Verlangen schon hin.
    »Darf ich noch um eine Tasse Tee bitten, Kitty?« Seine Stimme klingt, als hätte er Sand in der Kehle. Er reicht die Tasse, nun muß sie den Arm heben, über den Tisch strecken, bis zu ihm her. Jetzt – er sieht ein Medaillon vom Armreif niederzittern, eine Sekunde starrt seine Hand, aber nein, es ist eingrüner Stein, rund gefaßt, der leise an das Porzellan anklingt. Wie ein Kuß streichelt sein Blick dankbar das braune Haar Kittys.
    Einen Augenblick holt er Atem.
    »Darf ich dich um ein Stück Zucker bemühen, Margot?« Eine schmale Hand drüben am Tisch wacht auf, streckt sich, krümmt sich um eine Silberdose und bringt sie her. Und da – seine Hand schlottert leise – sieht er, wo das Gelenk sich in den Ärmel verkriecht, von einem feingeflochtenen Reif eine alte Silbermünze niederpendeln, achtkantig abgeschliffen, pennygroß, ein Familienstück offenbar. Aber achtkantig, mit den scharfen Ecken, die gestern in seinem Fleisch gebrannt haben. Seine Hand wird nicht fester, zweimal tappt die Zuckerzange daneben, dann erst läßt er ein Stück Zucker in den Tee fallen, den er zu trinken vergißt.
    Margot! Auf den Lippen fiebert der Name, ein Aufschrei der ungeheuerlichsten Überraschung; aber er beißt die Zähne zusammen. Da hört er sie jetzt sprechen – und so fremd scheint ihm ihre Stimme, als redete jemand von einer Tribüne herab – kühl, besonnen, leise witzelnd und so ruhigen Atems, daß ihm fast graut vor der furchtbaren Lüge ihres Lebens. Ist das wirklich dieselbe Frau, deren Keuchen er gestern niedergepreßt, deren feuchte Lippen er getrunken,die sich nachts wie ein Raubtier auf ihn gestürzt? Immer starrt er wieder auf die Lippen. Ja, der Trotz, das Verschlossensein, der konnte nur auf diesen scharfen Lippen sich bergen, aber was verriet ihm die Glut?
    Tiefer steht er in ihr Gesicht, als sähe er es zum erstenmal. Und zum erstenmal fühlt er, jubelnd, schauernd beglückt und fast einem Weinen nah, wie schön sie war in diesem Stolz, wie lockend in ihrem Geheimnis. Wollüstig zeichnet sein Blick die runde, in einem scharfen Winkel dann plötzlich aufklimmende Linie ihrer Augenbrauen nach, gräbt sich tief in den kühlen Karneol ihrer graugrünen Augen, küßt die blasse, leise durchleuchtende Haut ihrer Wangen, wölbt die jetzt scharfgespannten Lippen weicher zum Kuß, irrt um das helle Haar und faßt in raschem Niederstieg jetzt wollüstig die ganze Gestalt. Nie bis zu dieser Sekunde hat er sie gekannt. Nun er von Tisch aufsteht, zittern seine Knie. Er ist von ihrem Anblick trunken wie von schwerem Wein.
    Da ruft schon unten seine Schwester. Die Pferde stehen bereit zum Morgenritt, tänzeln nervös und kauen ungeduldig an den Trensen. Rasch steigt einer nach dem andern in den Sattel, und dann geht es in bunter Kavalkade durch die breite Gartenallee.Zuerst in langsamem Trab, dessen träger Gleichklang dem Knaben so wenig zum jagenden Takt seines Blutes stimmt. Aber dann hinter dem Tore lassen sie den Pferden die Zügel, stürmen von der Straße rechts und links seitab in die Wiesen hinein, die noch leise dampfen im Morgen. Es muß nachts stark getaut haben, denn unter dem schleiernden Rauch glitzern unruhige Funken, und die Luft ist wie von einem nahen Wassersturz wunderbar gekühlt. Die geschlossene Gruppe löst sich bald, die Kette zerreißt in farbige Splitter, ein paar Reiter sind schon im Wald und zwischen den Hügeln verschwunden.
    Margot ist eine der ersten voran. Sie liebt den wilden Schwung, den leidenschaftlichen Anflug des Windes, der an ihren Haaren reißt, das unbeschreibliche Gefühl des Vorwärtssausens im scharfen Galopp. Hinter ihr stürmt der Knabe: er sieht ihren stolzen Körper hochgereckt, geschwungen zu einer schönen Linie durch die wilde Bewegung, sieht manchmal ihr Gesicht, angeflogen von einer leichten Röte, das Leuchten ihrer Augen, und jetzt, da sie ihre Kraft so leidenschaftlich auslebt, erkennt er sie wieder. Verzweifelt fühlt er seine jähe Liebe, sein Verlangen. Eine ungestüme Gier überfällt ihn, sie jetzt plötzlich zu fassen, vom Pferd zu reißenund in seine Arme, wieder die unbändigen Lippen zu trinken und die schlitternden Stöße ihres erregten Herzens an seiner Brust aufzufangen. Ein Schlag in die Flanke, und aufwiehernd springt sein Pferd
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