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Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)

Titel: Erst lesen. Dann schreiben: 22 Autoren und ihre Lehrmeister - (German Edition)
Autoren: Olaf Kutzmutz
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vielleicht sogar eingestanden hätte. (Zum Glück hat mich keiner gefragt.)
    Ich nenne hier nur einen einzigen Namen: Heimito von Doderer. Dessen ausufernder, barocker, hinterlistig schwülstiger Stil hatte es mir sehr angetan. Heute würde ich vielleicht sagen, dass ich darin eine Art Symbiose oder gar eine Verschmelzung von kritischer Intelligenz und körperhafter Lebensfreude sah. Jedenfalls habe ich versucht, dieses behaglich Aufrührerische, neugierig Herablassende und konzis Üppige nachzuahmen.
    Und das war ein Fehler, ein typischer Anfängerfehler. Ich dachte damals wohl, man könnte sich durch Lektüre in eine Art literarische Grundstimmung versetzen und aus der heraus beginnen, das eigene Material zu gestalten. Ja, vielleicht dachte ich sogar, eine solche Grundstimmung könnte einen in die Lage versetzen, Material und Stoffe wahrzunehmen, auf die man sonst gar nicht gestoßen wäre. So als kaufte man sich einen schicken Anzug, um darin neue Bekanntschaften zu machen. Oder als steckte man sich per iPod die Musik ins Ohr, um sich anschließend vorzumachen, man befände sich in einem Film. Beispiele aus dem Bereich bewusstseinsverändernder Chemikalien möchte ich mir schenken.
    Und damit das böse Wort endlich heraus ist: Solch eine Anregung als Stimulation zur Nachahmung führt bestenfalls zu Nichtigem, zum Kitsch als der »Empfindung der Empfindung«, schlimmstenfalls allerdings zum Plagiat. Vielleicht gerät am Anfang seiner Schreibgeschichte jeder in eine solche Versuchung; weiterkommen heißt ihr zu widerstehen beziehungsweise sie zu überwinden.
    Allein, es gibt auch eine weiße Magie des literarischen Vorbilds. Die aber funktioniert praktisch genau so wie alle Anregung; das heißt: ganz wesentlich geht es um Aneignung und Metamorphose. Aber auch das erläutere ich jetzt am besten durch Beispiele.
    Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften habe ich anfangs nicht gern gelesen. Vielleicht lag es daran, dass das gewaltige Werk in Form einer Hauptpflichtlektüre über mich kam, als ich zu Beginn meines Studiums Hilfskraft an einem Lehrstuhl wurde, wo sehr eingehende Musil-Studien betrieben wurden. Ich habe im Zuge dieser Studien den Mann ohne Eigenschaften mehr als ein halbes Dutzend mal gelesen, und ich habe ziemlich lange gebraucht, seine Schönheit zu begreifen und zu empfinden. Noch länger aber habe ich gebraucht, um wahrzunehmen, dass und wie von diesem Buch an jemand, der selbst schreiben will, eine Aufforderung ausgeht. Sie lautet: Denk darüber nach, ob und wie sich das erzählend-erfindende und das bedenkend-erörternde Schreiben voneinander unterscheiden!
    Ich will nun nicht anmaßend sein, aber ich denke, wer ohne diese Frage im Hinterkopf schreibt, wer glaubt, das Literarische und das Diskursive lebten getrennt voneinander wie Reh und Wolf im Zoo, der schreibt hinter dem Gang der Literatur- und Geistesgeschichte her oder hat sich ins Dickicht der Reflexionsverweigerung geschlagen. Damit mich bitte niemand missverstehe: Man muss nicht schreiben »wie« Musil. Man muss nicht einmal einen eigenen Versuch zur Versöhnung oder Verschmelzung von Essay und Fiktion unternehmen. Aber man kann (und sollte) vom Mann ohne Eigenschaften lernen, dass ein beständiges Nachdenken über Abschottung und Durchdringung der »Textsorten« zum literarischen Schreiben gehört wie das Auffüllen des Tanks zum Autofahren.
    Und damit gleich zu einem anderen, vielleicht nicht so großformatigen Beispiel. Zu meinen »Lieblingsautoren« zähle ich Theodor Fontane – und handle mir dafür häufig den weniger ausgesprochenen und mehr durch ein Stirnrunzeln vermittelten Kommentar ein: das sei doch sehr schön, aber thematisch wie literarisch ein wenig Schnee von gestern. Ich widerspreche an dieser Stelle nicht (wie soll man auch einem Stirnrunzeln widersprechen?) – ich sage nur, was mich in Fontanes Romanen angesprochen, ja was mich aufgefordert hat, diese Literatur als Aufgabe mit an meinen Schreibtisch zu nehmen.
    Es ist ganz wesentlich das Sprechen der Figuren bei Fontane; oder besser: Es ist das Vermögen dieses Autors, Botschaften aus der Tiefe der Figuren in deren Konversation erscheinen zu lassen und das heißt in einem Sprechen, das leicht als zeitverhaftet und oberflächlich durchgehen mag. Fontanes Figuren sprechen sich aus, ohne zu psychologisieren, sie deuten, ohne zu raunen.
    Darin liegt eine Aufforderung. Natürlich ist der Tonfall des preußischen (Beamten-)Adels längst obsolet. Wer das Parlando der
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