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Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde

Titel: Erskine, Barbara - Mitternacht ist eine einsame Stunde
Autoren: Barbara Erskine
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konnte fühlen, wie die Kraft des fremden Geistes nach ihnen griff, wie die Ranken der Wut und des Hasses sich durch die Luft schlängelten und sich von der Energie des Hasses nährten.
    »NEIN!«
    Sie merkte erst, daß sie laut geschrien hatte, als sie sah, wie die anderen sie anstarrten, die Gesichter voller Angst. »Er sucht jemand anderen -«
    »Bekämpfe ihn. Halt an den eigenen Gedanken fest. Bekämpfe ihn mit aller Macht. Sag ein Gedicht auf. Konzentrier dich.« Anne packte sie am Arm. »Kämpfe gegen ihn an. Die beiden da hat er ausgesaugt wie… Batterien…« Sie spuckte vor Zorn. »Und jetzt braucht er Energie von anderswo. Bekämpfe ihn.« Sie blickte sich um. »Wo ist Paddy?« Ihre Stimme wurde durchdringend vor Angst.
    »Mein Gott! Bitte laß ihn nicht in das Arbeitszimmer gegangen sein! Laß ihn nicht seinen Vater gefunden haben -« Es hatte keine Gelegenheit gegeben, ihnen zu sagen, daß Roger tot war, keine Möglichkeit, es ihnen schonend beizubringen. Diana rappelte sich auf, schob sich an Pete vorbei und rannte zur Tür. Dann blieb sie unvermittelt stehen. Patrick saß draußen im Flur zusammengesunken an der Wand.
    »Paddy!« Ihre Stimme hob sich zu einem lauten Schrei. Der Junge schlug die Augen auf. »Paddy. Ist alles in Ordnung mit dir?« Sie warf sich neben ihn nieder und umarmte ihn fest. Er nickte unbestimmt. »Müde.« Er konnte kaum sprechen.
    »Müde und sehr tapfer.« Jon war ihr nachgegangen. Er streckte dem Jungen die Hand hin. »Er ist okay.« Man konnte es an den Augen sehen. Alisons ausdrucksloses Starren hatte nichts mit diesem verschwommenem, schläfrigen Moment der Orientierungslosigkeit zu tun. »Los, alter Junge. Steh auf und komm mit zum Feuer.« Er lächelte Diana an. »Er ist okay. Er ist bestimmt okay. Nur fürchterlich erschöpft.«
    Diana nickte. Im Arbeitszimmer hinter der Tür lag Roger auf dem Feldbett, kalt. Sie mußte Patrick sagen, daß sein Vater gestorben war. Sie mußte es den anderen sagen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber sie sagte nichts, als Jon Paddy hinüber zum Feuer half, ihn in einen Sessel gleiten ließ. Jetzt war nicht der richtige Moment dafür. Sie konnte es nicht ertragen, auch nur darüber zu reden. Noch nicht.
    Sie standen alle dicht zusammengedrängt und sahen sich um. Regen klatschte an das Fenster. Vom Eiszapfen über dem Vordach begann eine gleichmäßige Kette von Tropfen auf die Schwelle zu fallen. Innen sank die Temperatur noch immer. Sie starrten sich an.
    Anne runzelte die Stirn. »Er ist noch hier. Auf der Suche nach Energie«, flüsterte sie. »Ich kann ihn spüren.« Sie erschauderte. »Mein Gott, ich habe so etwas noch nie erlebt.« Sie schaute in die verängstigten Gesichter. »Konzentriert euch. Füllt eure Gedanken mit etwas. Denkt angestrengt nach. Sagt ein Gedicht auf. Irgend etwas. Laßt ihn nicht herein. Sagt etwas auf! Alle zusammen. Jetzt. Etwas, das ihr alle kennt. Schnell.«
    Einen Moment lang war das Zimmer völlig still. Dann begann Diana, die die Hand ihrer Tochter umklammert hielt, langsam den Text eines Kinderreims anzustimmen. »Der Bär und der Regenwurm gingen œ juchhee! über Stock, über Stein auf die Weide…«
    Mit einem unsicheren Lächeln stimmte Cissy mit ein, und bald machte Pete auch mit. »Der Bär hatte zwei Fässer Honig dabei, und der Regenwurm trug sie ihm beide…«
    War es nur ihre Einbildung, oder wurde es wirklich wieder wärmer im Zimmer?
    »Weiter. Es funktioniert«, flüsterte Anne. »Nicht aufhören. Nicht aufhören. Noch eins.«
    Diana hatte ihre Augen zusammengekniffen, als würde sie beten. »Humpty Dumpty fiel vom Baum, brach in Stücke, aus der Traum. Des Königs Gefolge -«
    Sie alle spürten, wie sich im Zimmer plötzlich die Spannung löste.
    »Er ist weg.« Gregs Flüstern schnitt ihnen das Wort ab.
    Einen Moment lang war alles still.
    So schnell wie sie gekommen war, war die drohende Gefahr, die kalt um sie herumschlich, wieder verschwunden, und mit ihr der seltsame, rätselhafte Geruch von Rogers Tabak.
    Für den Augenblick waren die sie umgebenden Schatten leer.

LXXI
    Der Land Rover der Polizei rutschte und bockte den Weg hinunter. Joe saß vorn zwischen den beiden uniformierten Konstablern. Hinter ihnen klammerte sich Dr. Jamieson an den Vordersitzen fest, als ginge es um sein Leben, während sie durch den immer nasser werdenden Schlamm schlitterten. »Ist nicht mehr weit jetzt.« Joe lugte durch die Windschutzscheibe. »Runter zwischen diesen Bäumen, und wir sind
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