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Eros

Eros

Titel: Eros
Autoren: Helmut Krausser
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genug, um nicht eine gewisse dunkle Hoffnung zu
erlauben. Vielleicht stießen die Nazis bei ihm deshalb auf Duldung – sie ließen
so gut wie alles als möglich erscheinen, hatten die Welt aus der Bahn geworfen,
ein simples Faszinosum des Neuen, das im Rückblick meist unterschätzt wird. Ich
glaube, wer damals dachte, der Faschismus sei zwar etwas zu Verurteilendes, sei
aber von solch überwältigender Kraft, daß er die Welt in den nächsten
Jahrzehnten beherrschen werde, dem kann man nicht plump Dummheit vorwerfen.
Wenig hätte gefehlt, und der Lauf der Geschichte hätte demjenigen Recht
gegeben. Zu glauben, das Gute habe aus sich selbst heraus siegen müssen, ist
Idiotie.
    Zur Leibesertüchtigung spielte ich Tennis, dreimal die Woche, mit
Volker, dem erstgeborenen Sohn Keferlohers. Er war vier Jahre älter als ich und
deshalb als Auskunftsstelle in geschlechtlichen Fragen ungeeignet. Ihm war
anzusehen, daß er mit mir Tennis spielen mußte, weil sein Papa der Vize von meinem war. Wir spielten schweigend, jeweils eine Stunde pro Tag. Ich habe im Leben
nichts Blöderes gemacht, wenigstens nicht so regelmäßig.
    Volker ist später an der Ostfront gefallen.
    Der Krieg kam uns näher. Meine Erinnerungen nehmen zu. 1944, im
März, wurde das Residenztheater total zerstört, im April Sankt Bonifaz, mit der
romanischen Basilika Zieblands, die meinem Vater als Muster historischen Bauens
gegolten hatte. Sowie die neuromanische Maximilianskirche, das Hauptwerk des
Freiherrn Heinrich von Schmidt. Sogar die Details sind mir noch geläufig.
Jedesmal weinte Papa. 1944. Das erste Jahr der Furcht. Vorher war es ein wirklich
toller Krieg, ich würde lügen, wenn ich behauptete, es anders empfunden zu
haben. Und nun: Phosphor, Feuer, Schrecken. Gelbe, graue, schwarze und braune
Schwaden verdüsterten tagelang den Himmel. In nächster Nähe: Straßen, übersät
von Splittern und Trümmern. Der Brandgeruch, der Brand- und Mauerschutt in
hohen, stinkenden Haufen. Juni und Juli lag der Angriffsschwerpunkt im Norden
der Stadt, BMW wurde schwer getroffen, trotz künstlichen Nebelschutzes, die in
Allach liegenden Werke von BMW und Krauß-Maffei erlitten leichtere Treffer.
Mitte Juli brannte der Chinesische Turm im Englischen Garten, danach erwischte
es den Tierpark Hellabrunn. Viele Tiere starben, Zebras, Antilopen, Büffel,
Rentiere, Kamele, Bären und Hirsche. Fast alle Münchner Schulen waren beschädigt.
Mein zuvor beargwöhnter Privatunterricht stand nun außer Frage. 1944 war das
Jahr des stärksten Flakfeuers. Das hellklingende Surren der anfliegenden
Maschinen verdichtete sich zu einem ungeheuren Brausen, die zweite Welle, die
dritte, vierte. Von nun an gab es Bomben mit Zeitzündern, die in die Häuser
einfuhren, in halber Höhe des Hauses oder im Schutt des Einsturzes
steckenblieben und dort erst nach sechzig bis achtzig Stunden explodierten. Ich
wurde religiös. Ich betete zum Führer, bestraf sie! Ich hatte nie zum Führer
gebetet, aber der Haß, den ich beim Anblick der halb zerstörten Stadt empfand,
trieb mich dazu, den meines Glaubens Einzigen anzubeten, der die Macht besaß,
solche Verbrechen zu bestrafen. Nebenbei: Krauß-Maffei überstand den Krieg fast
unversehrt. Möchte man nicht glauben. Und, stellen Sie sich vor, was heute kaum
noch jemand weiß: Im Sommer, bis Mitte September, beinahe übereinstimmend mit
den Sommerferien, gab es keinen einzigen Angriff. Die Menschen entspannten ein
wenig. Dann flogen sie wieder, die Mustang, Lightning, die viermotorigen
Stirlings, Mosquitos, Halifax und Lancasters, die Briten kamen in der Nacht,
die Amis, mit ihren B17-Fortresses und B27-Liberators, am Tag.
    Wir verzärtelten Eispalastbewohner hatten gelernt, mit
Volksgasmaske, Feuerpatsche, Löscheimer, Einstellspritze und Verbandskasten
umzugehen, wenn nicht in der Praxis, so zumindest in der Theorie. Am
nordwestlichen Ende von Allach lag ein Standort der schweren Flakartillerie,
mit viel Hitlerjugend im Einsatz, als Meldegänger, Helfer der
Feuerschutzpolizei und was weiß ich noch alles. Mir blieb das Meiste erspart.
    Und ich begegnete Sofie zum ersten Mal.
    Man hörte von Norden die ersten Einschläge, danach erst die
Alarmsirenen, so spät war’s inzwischen in Deutschland. In unserer Straße lebten
viele, die in den Werken meines Vaters arbeiteten. Diese Straße besaß nur einen
einzigen Luftschutzkeller. Meiner Mutter war das gar nicht recht. Mir schon.
Inzwischen mochte ich den Luftalarm.
    Luftalarm bedeutete, es würde
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